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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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Während dieser Zeit schaut sich der Mann im vorderen Teil der Buchhandlung um. Er betrachtet die Regale, verweilt einen Augenblick vor dem Tisch mit den Neuheiten, wirft einen Blick zum Regal mit den Bob Morane und beugt sich schließlich über die Kisten, in denen ich meine Bücher für einen Dollar feilbiete. Das meiste, was in diesen Kisten zusammengeschnürt liegt, ist sehr viel mehr wert. Schon auf den ersten Blick entdeckt man beispielsweise drei ziemlich neuwertige Reiseführer (Indonesien, Island, Hawaii), ein kaum verkratztes Album von Tim und Struppi ( Kohle an Bord ), das Ashley Book of Knots (in gutem Zustand, aber ohne Einband) und eine Sonderausgabe von Das Leben. Gebrauchsanweisung (hochwertig gebunden).
    In der Hocke vor einer dieser Kisten untersucht der Mann die Bücher, wendet sie, schiebt sie auseinander, um zu sehen, was sich darunter befindet. Ich sehe ihn plötzlich erstarren, als hätte er eine dicke Tarantel entdeckt, die vertrocknet auf dem Kistenboden zerquetscht liegt. Ich nähere mich unauffällig. Er hält in seinen Händen das alte Dreiköpfige Buch.
    „Auch wenn es nicht danach aussieht: Das hier ist ein Unikum.“
    „Wie bitte?“, fragt er mit einem Ausdruck, als hätte ich ihn soeben aus einem Traum aufgeweckt.
    „Ein Unikum. Ein Buch, von dem auf der ganzen Welt nur ein einziges Exemplar bekannt ist.“
    Er stellt sich wieder auf und betrachtet das Dreiköpfige Buch mit gerunzelter Stirn.
    „Wirklich? Wie können Sie da so sicher sein?“
    „Sehen Sie es sich genau an: Es besteht aus den Fragmenten von drei Büchern. Das erste Drittel stammt aus einem Werk über die Schatzsucher. Das zweite Drittel aus einer historischen Abhandlung über die Piraten der Karibik. Das letzte Drittel aus einer Biografie über Alexander Selkirk, einen Schiffbrüchigen auf einer Insel im Pazifik.“
    „Eine Anthologie also.“
    „Nein: Es sind Fragmente im wahrsten Sinne des Wortes. Bruchstücke, Abfälle. Ein Buchbinder hat die Überreste von drei Büchern genommen und sie zusammengenäht. Das ist Kunsthandwerk, ein Einzelstück, kein massenweise gedrucktes Objekt.“
    Der Mann dreht und wendet das Buch in seinen Händen wie einen Zauberwürfel.
    „Komische Idee. Ich verstehe nicht, warum ein Buchbinder so etwas getan haben sollte.“
    „Wer weiß das schon. Aus Spaß am Puzzeln vielleicht. Ach wissen Sie, ich gebe es Ihnen für 50 Sous, Freundschaftspreis.“
    Für eine Antwort bleibt ihm keine Zeit, da das Kind aus der dritten Reihe hervorgeschossen kommt, die Arme über und über mit Wundern beladen. Der Mann legt das Dreiköpfige Buch auf dem Tresen ab, um zu begutachten, was der Junge alles mitgebracht hat. Ich rechne damit, dass er diese reichliche Auswahl zurechtstutzen wird, aber dem ist nicht so: Er zählt lediglich die Titel auf und akzeptiert jeden von ihnen mit zufriedenem Nicken:
    „. . . Das Aussterben der Dinosaurier, Das Zeitalter der Saurier, Das große Buch der Fossilien, Gigantoraptoren des Jura und Mein Ausflug in die Kreidezeit. Gar nicht schlecht . . . Nichts über Kolibris?“
    „Nichts über Kolibris“, antwortet das Kind und streckt die Arme von sich.
    „Na, dann eben nicht.“
    Er schiebt die Bücher zu mir hin, legt zwei Zwanzig-Dollar-Scheine darauf und macht sich daran, den Mantel des Kindes wieder zuzuknöpfen. Ich rechne die Preise zusammen, ziehe einen stillschweigenden Rabatt von 15 % ab und verpacke die erworbenen Waren in einer alten Plastiktüte. Als ich ihm das Wechselgeld zurückgebe, lächelt der Mann auf rätselhafte Weise.
    „Wissen Sie, Ihr Unikum hat ein paar Federn gelassen.“
    Ich hebe fragend eine Augenbraue. Anstelle einer Antwort zieht er aus seiner Brieftasche ein kleines, doppelt gefaltetes Papier und legt es sorgsam auf das Dreiköpfige Buch. Sein Zeigefinger bleibt noch einen Moment auf dem Papier liegen, zögernd – dann geht alles sehr schnell: Er nimmt die Tüte, rückt seine Mütze zurecht und schiebt das Kind zum Ausgang, während er mir noch Frohe Weihnachten wünscht.
    „ ¡Feliz Navidad! “, setzt das Kind hinzu und wedelt mit den Handschuhen.
    Glöckchengebimmel, kurzer, eisig kalter Luftzug, und fort sind sie wie zwei Saboteure, die soeben eine Bombe mit Zeitzünder gelegt haben.
    Ich falte neugierig das kleine Papier auseinander. Es ist eine Karte von der Karibik. Sie ist rechteckig, misst circa zwanzig Zentimeter in der Länge und trägt kein Datum, keine besonderen Angaben. Auch auf der Rückseite ist nichts vermerkt,
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