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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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Lichtstrahl streicht durch den Raum, fällt auf die Stinte, die die Wand entlangschwimmen. Er schließt die Tür hinter sich und der Trubel des Fernsehers wird schwächer.
    „Noah?“, fragt eine leise Stimme in der Dunkelheit.
    Er setzt sich auf den Rand der Matratze und streichelt Simón die Stirn.
    „Was ist?“
    „Kannst du mir eine Geschichte erzählen?“
    „Ich habe dir doch vorhin schon eine erzählt. Jetzt wird geschlafen. Los, mach mal etwas Platz.“
    Eine Reihe von Wellen bringt die Bettstatt ins Schwanken, als Simón zum anderen Ende der Matratze robbt. Noah zieht sich bibbernd aus, streift sich trockene Wollsocken über und schlüpft unter die Seesterne. Mit einem sonderbaren Gefühl erkennt er jede noch so kleine Unebenheit in der Matratze wieder – vertraute, tröstliche Unbequemlichkeit.
    „Gute Nacht“, murmelt er in Richtung seines Sohnes.
    „Gute Nacht.“
    Er drückt seinen Kopf in das Kissen, schließt die Augen und atmet genüsslich aus. Stille macht sich im Zimmer breit. Durch die Wand hört man schwach die Sportnachrichten.
    „Stimmt es, dass du früher hier gewohnt hast?“, fragt Simón.
    „Hmm“, bestätigt Noah. „Ich habe vier Jahre bei Maelo gewohnt.“
    Er lässt ein langes Gähnen hören. Auf der anderen Seite der Wand spricht ein Sportberichterstatter von Verletzungen, zahlenmäßiger Unterlegenheit und Strafstößen.
    „Und das hier war dein Zimmer?“, lässt Simón nicht locker.
    „Das hier war mein Zimmer“, seufzt Noah und versucht vergeblich, sich am Schlaf festzuklammern.
    „Und in dem Bett hier hast du geschlafen?“
    „In dem Bett hier habe ich geschlafen . . .“
    „. . . damals, als man mich noch schlafen ließ“, denkt er, und weiß, dass er unaufrichtig ist. In Wirklichkeit waren die Gründe für seine Schlaflosigkeit damals um einiges zahlreicher und Noah kann sich ohne Weiteres bunt durcheinander an all die schlaflosen Nächte erinnern, die er in diesen vier Wänden verbracht hat: die Nächte, die er durchgelernt hat, die unerträglich heißen Nächte im Sommer, die Nächte, in denen Jututo war, bis die Nachbarn die Polizei riefen, die Nächte, in denen er seiner Mutter schrieb, die Nächte über Straßenkarten gebeugt, bei dem Versuch herauszufinden, wo seine Mutter sich aufhalten könnte, die Nächte, in denen er langsam zweifelte, ob seine Mutter überhaupt irgendwo war, die Nächte kurz vor Semesterende (schwarz und ohne Träume), die Nächte voller Angst, die Nächte mit Grippe, die Nächte, in denen er an seinen Vater dachte, die Nächte, in denen er sich Nikolski auszumalen versuchte, die Nächte mit einer Dose Paracetamol und einem Glas Wasser im Morgenmantel auf seinem Bett liegend, die Nächte, in denen er Romane las – und nicht zu vergessen die Nächte in Gesellschaft von Arizna, kurze Momente, die den ruhigen Verlauf seines Lebens für immer durcheinandergebracht hatten.
    Simón stellt keine Fragen mehr. Er schaut zur Decke, ohne etwas zu sagen, so als dächte auch er an diese vergangenen Nächte, dieses weit entfernte Echo vor seiner Geburt. Wie können so viele Erinnerungen in einem so winzigen Zimmer festhängen? Er hebt einen Arm und macht einen kleinen Kreis in die Luft, so als versuche er, damit die gesamte Existenz seines Vaters zu umreißen.
    „Ist ja echt total klein “, haucht er Noah mit verwunderter Stimme ins Ohr.
    Noah setzt sich halb auf. Er braucht einige Sekunden, um zu verstehen, dass Simón von dem Schlafzimmer redet. Er lächelt und küsst ihn auf die Stirn.
    „Du wirst sehen, daran gewöhnt man sich schnell.“

Ausverkauf
    Nur noch zwei Tage bis Weihnachten und acht bis zum Weltuntergang.
    Die Buchhandlung ist seit einer Woche so gut wie ausgestorben. Die Leute tummeln sich woanders, dort wo es glitzert, in den Labyrinthen aus Plastik und Edelstahl, bei den Porzellanhändlern, den PacMan-Verkäufern, den Luxusparfümeuren und Geflügelschlächtern. Der Markt für gebrauchte Bücher bricht taumelnd ein – und wenn ich ehrlich bin, ist mir das fast ein bisschen egal. Ich habe gerade ein Schild zu Ende geschrieben, das ich direkt neben der Kasse über den Tresen hänge:
    Die Buchhandlung S. W. Gam
sucht einen
erfahrenen Buchhändler
    Teilzeit oder Vollzeit
    Nichts für Nomaden
    Ich betrachte das Schild und reibe mir die Hände. Das wäre schon mal erledigt. Madame Dubeau, meine geschätzte Chefin, drängte mich seit mehreren Tagen schon, damit fertig zu werden und das Jobangebot aufzuhängen. Sie scheint wohl zu
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