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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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zum Spülbecken, um das herum sich noch einiges mehr an verdrecktem Geschirr stapelt. Auf dem Herd stehen verlassen ein Wasserkessel, eine Dose mit Teebeuteln und eine leere Teekanne. Am südlichen Ende des Zimmers führt ein Guillotine-Fenster hinaus auf die Feuertreppe. Das Fenster ist bis zum Anschlag geöffnet, trotz des schlechten Wetters, das draußen herrscht. Die Vorhänge wogen sachte hin und her und auf dem Boden breitet sich langsam eine Pfütze geschmolzenen Schnees aus.
    Auf der anderen Seite der Tür wird immer noch geklopft.

Schutzgott der dreisten Lügner
    Das Brummen eines Dieselmotors weckt mich gegen sieben Uhr morgens.
    Ich öffne ein Auge. Ich liege noch immer auf dem Boden im Wohnzimmer, den Kopf zwischen Teekanne und der Flasche mit billigem Rum. Ich habe Kopfschmerzen à la Bukowski und das unangenehme Gefühl eines Déjà-vu.
    Ich taumele zum Fenster und kralle mich am Bambusvorhang fest. Draußen hat es aufgehört zu regnen und ein feiner Puderschnee fällt auf die Statue des alten Dante Alighieri, während eine städtische Schneefräse, die im hohen Bogen Schnee und Funken spuckt, die Straße freiwalzt und salzt.
    Gähnend frage ich mich, woher all das Salz nur kommen mag. Zweifellos von den Madeleine-Inseln. Der Kreislauf des Salzes veranschaulicht auf wunderbare Weise die Nichtigkeit des Daseins: Geduldig lagert es sich über Jahrtausende auf dem Meeresboden ab, wird herausgesprengt, in kleine Körner zermahlen, wird verschifft, in Schneefräsen verstaut, in Montréals Aderngeflecht verteilt und dann durch die Kanalisation in Richtung des heimatlichen Ozeans abgeführt.
    Was sind wir schon?
    Die Schneefräse verschwindet an der nächsten Straßenecke und ich gehe weg vom Fenster. Das Wohnzimmer ist im selben Zustand wie am Abend zuvor: Die Alaskakarte liegt noch immer ausgerollt auf dem Boden, festgehalten von der Teekanne und der leeren Flasche Rum. Auf dem Tisch befinden sich das alte Dreiköpfige Buch, zwei benutzte Gläser und ein zerbrochener Kompass.
    Nichts wurde bewegt – aber der alte Seesack ist verschwunden, der gelbe Regenmantel ist verschwunden und Joyce hat den Anker gelichtet.
    Beim Aufheben der Rumflasche überschlage ich mit einem Schaudern, welche Menge Alkohol gestern Abend umgefüllt wurde. Ich fühle meine Leber sich zusammenziehen. Werde ich etwa alt? Ich muss dazu sagen, dass es keineswegs zu meinen Gewohnheiten gehört, mit so viel Einsatz zu bechern. Ich beschließe, das Ganze unter der Dusche mit Wasser zu strecken.
    Auf dem Weg ins Badezimmer schweift mein Blick instinktiv über den Bücherschrank. Ich zucke zusammen. Eine nicht normale Lücke klafft inmitten der Reiseführer. Meine Bücherdiebin war wieder am Werk! Ich finde schnell heraus, welches Exemplar fehlt: Es ist der Rough Guide über die Dominikanische Republik.
    Ich betrachte die Lücke, sprachlos, wie man auf das fehlende Teil in einem Puzzle schauen würde. Diese wenigen Kubikzentimeter Leere fassen treffend zusammen, was ich über meine Bücherdiebin alles weiß: so gut wie nichts.
    Während ich noch weiter über dieses spärliche Indiz nachgrübele, entdecke ich im Badezimmer einen durchweichten alten Wollpullover und eine noch nasse Jeans. Obendrein hat Joyce das Feld geräumt, ohne sich die Zeit zu lassen, ihre Kleider mitzunehmen – ein Abgang wie aus einem billigen Bahnhofskrimi! Diese Frau hat mir wirklich keine Überraschung erspart. Beim Durchsuchen der Hosentaschen entdecke ich:
    – einige Münzen Kleingeld (im Ganzen 61 Sous);
    – eine Visitenkarte der Buchhandlung S. W. Grams, auf die ich hinten meine Adresse gekritzelt habe;
    – einen zerknüllten Kassenbon („SANDWSCHINK – 1 – $3,75“)
    – eine Rechnung von Hydro-Québec, adressiert an Mme Joyce Doucette, wohnhaft in der Rue Mozart.
    Ich schaue auf meine Uhr: Noch zwei Stunden, bis die Buchhandlung aufmacht. Ich ziehe mich schnell an, werfe Joyce’ Kleider in eine alte Plastiktüte und steige in meine Winterstiefel.
    Ich stürme die Treppe hinunter, durchquere den Parc Dante, sogar ohne den alten Schriftsteller zu grüßen, fliege wie ein Pfeil an meinem italienischen Lieblingscafé vorbei, entkomme um ein Haar der Schneefräse und renne – mit meiner Tüte unter dem Arm wie ein Rugby-Ei – die Rue Casgrain hinauf.
    An der Ecke Mozart/Casgrain bleibe ich einen Augenblick stehen, um wieder Atem zu schöpfen.
    Der Schnee macht aus dieser durchaus vertrauten Kreuzung die Kulisse einer Geisterstadt. Einige Autos fahren mit
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