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Eischrysanthemen

Eischrysanthemen

Titel: Eischrysanthemen
Autoren: Angelika Murasaki
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Man ließ Vincent seit fünfundvierzig Minuten warten. Der Schnee auf seinem Mantel hatte sich aufgelöst und war längst getrocknet. Doch Vincent saß noch immer in der kleinen überheizten Garderobe, starrte auf den überfüllten Schminktisch und fragte sich, wie lange er noch warten musste. Vor fast einer Stunde war die Vorstellung zu Ende gegangen, und Vincent hatte sich noch während der Vorhänge nach hinten begeben. Er hatte seinen Presseausweis gezeigt und war schließlich in die Garderobe des Stars geführt worden, der sich nun mehr als nur viel Zeit ließ, endlich hier aufzutauchen.
    Vincents Unterlagen lagen fein säuberlich auf dem kleinen Tisch vor ihm, daneben das Diktiergerät, welches er sicherheitshalber mitgenommen hatte, falls seinen Interviewpartner der große Redeschwall erfassen sollte. Der große Star war allerdings noch immer nicht da, und Vincent fragte sich, ob das die japanische Art war zu sagen, dass man es sich anders überlegt hatte. Das wäre eine Katastrophe gewesen! Vor allem weil er der Einzige war, der tatsächlich eine Interviewzusage bekommen hatte. Die anderen hatten sich lediglich die Vorstellung ansehen dürfen. Durch die Hilfe von Marianne, seiner Nachbarin, hatte er dieses Interview ergattern können. Nur der Himmel wusste, wie sie das gedreht hatte. Vincent konnte sich jedoch ausmalen, dass die vielen Partys, auf die sie ging und ihn bei Bedarf als männliche Begleitung mitschleppte, auch mal Früchte tragen mussten. Wie man jedoch Kira Miyamoto dazu gebracht hatte sich auf das Ganze einzulassen, wo er doch alle vorherigen Anfragen abgeschmettert hatte, wusste Vincent nicht.
    Er nahm einen Schluck Wasser aus dem Plastikbecher, den man ihm großzügigerweise bei seiner Ankunft hingestellt hatte, und griff nach seinem Notizblock. Kira Miyamoto war der Mann, den er interviewen sollte. Die Irritation wegen des Namens, den Vincent erst mit einer Frau verband, löste sich jedoch auf, nachdem er einige Fotos von ihm im Internet gesehen hatte. Ein schlanker Mann, dessen altersloses, weiß geschminktes Gesicht eine gespenstische Ruhe ausstrahlte. Er hatte androgyn und auf jeden Fall nicht eindeutig männlich gewirkt. Da es keine privaten Fotos von ihm gab, hatte Vincent keine Ahnung, was ihn genau erwartete. Dazu kam der Mangel an englischsprachigen Informationen. Es existierte zwar genug Material auf Japanisch, aber das handelte eher allgemein von Kabuki. Über Kira an sich war nur wenig zu finden gewesen. Alle Übersetzungsversuche der japanischen Texte mithilfe von Programmen hatten einen Wortsalat ergeben, den Vincent nicht mal ansatzweise hatte entschlüsseln können. Leider war die Zeit bis zum Interview einfach zu knapp gewesen, jemanden zum Übersetzen zu suchen, und so hatte sich Vincent mit den unzureichenden Informationen auf das Interview vorbereitet. Nun fragte er sich, ob es überhaupt stattfinden würde.
    Er wollte sich gerade erheben, um nach jemandem Ausschau zu halten, als vor der Tür endlich deutliche Geräusche zu hören waren. Die Tür öffnete sich auch tatsächlich, doch es war nicht Kira, der eintrat. Sondern eine kleine Japanerin, die Vincent nicht einmal eines Blickes würdigte. Sie ging schnurstracks zum Perückenkopf, der neben dem Schminktisch stand, und setzte eine schwarze Perücke auf diesen.
    Aber Vincent interessierte nicht die Perücke, sondern der Mann, welcher sie während der Vorstellung getragen hatte. Und dann wurde sein langes Warten belohnt. Unter Lachen und exotisch klingenden Worten, die er beiläufig über die Schulter warf, betrat Kira endlich die Garderobe. Sein Gesicht war noch immer geschminkt, das Haar mit einem Haarnetz zurückgehalten, und er trug den weißen Kimono, den er auch während der Vorstellung getragen hatte. Er schien Vincent gar nicht zu bemerken, denn er ging zum Spiegel und ließ sich von der Garderobiere beim Auskleiden helfen. Vincent musste den Anblick ohnehin erst verdauen, der von dem, was er sich vorgestellt hatte, erheblich abwich. Tatsächlich hatte Vincent einen kleinen, überaus höflichen Japaner erwartet, der eher an eine Frau, denn an einen Mann erinnerte. Doch mit dieser Vorstellung hatte der Mann, der keine zwei Meter von ihm stand, nur wenig gemein. Kira war überraschend groß für einen Japaner, fast so groß wie Vincent, und ohne Perücke leichter als männlich zu identifizieren. Das nichtssagende, androgyne und weiß geschminkte Gesicht, das Vincent auf Fotos gesehen hatte, war jetzt kaum noch zu
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