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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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dumpfem Knirschen vorüber. Fast niemand ist auf der Straße, die Geschäfte sind noch geschlossen. Eine Frau stößt sich die Nase an der Tür des italienischen Lebensmittelladens. Nach kurzem Zögern überquert sie die Straße, läuft unter dem neonroten Lachs der Fischhandlung Shanahan entlang und eilt in Richtung Marché Jean-Talon davon.
    Ich ziehe meinen Schal fester um den Hals und schaue nach den Hausnummern um mich herum. Joyce’ Gebäude sehe ich sofort – und, direkt davor geparkt, zwei Fahrzeuge der Nationalpolizei.
    Ich versuche in aller Ruhe herauszubekommen, was hier los ist. Einen Augenblick später kann ich insgesamt vier Fahrzeuge ausmachen: zwei normale Streifenwagen, einen als Zivilauto getarnten gelbgrauen Malibu (der sich durch seine UKW-Antenne verrät) und einen weißen Kleintransporter – ganz abgesehen von einem Minivan des Journal de Montréal . Aber kein Polizist ist in Sicht.
    Immer schön ruhig bleiben: Vielleicht besteht zwischen Joyce’ übereiltem Aufbruch und der Polizeipräsenz hier auch überhaupt kein Zusammenhang.
    Ich nähere mich der Tür in der Hoffnung, die Spuren eines Familiendramas erhaschen zu können – scharlachrote Spritzer, verdächtigen Rauch –, aber ich sehe nichts als Leuchtgirlanden, die an einem Kranz aus künstlichem Tannengrün baumeln. Aus einer Ecke des Flurs kommt das schwache Blinken eines Plastikweihnachtsmanns, der aussieht, als sei ihm das gesamte Universum vollkommen egal.
    Ich schaue noch einmal auf die Rechnung von Hydro-Québec. Joyce wohnt nachweislich hier, in Wohnung 34. Ich atme tief durch, öffne die Glastür und steige die Treppe hinauf.
    Im dritten Stock fragt ein Journalist lustlos einen schlecht rasierten Typen aus – den Hauswart, wenn man dem schweren Schlüsselbund an seiner Hose Glauben schenken darf –, während sein Fotograf mit Kippe im Mundwinkel eifrig die Umgebung abfotografiert. Ich umgehe die kleine Gruppe (der Hauswart schaut mich komisch an) und gehe weiter den Flur entlang. Ein Wache stehender Polizist vor Wohnung 32 versperrt mir den Weg.
    „Wo wollen Sie hin?“, fragt er mit schneidender Stimme.
    „Einen Freund besuchen.“
    „Welche Wohnung?“
    „Nummer 35.“
    Ich habe die Zahl gesagt, ohne nachzudenken. Ein Schaudern läuft mir das Rückgrat hinauf: Und was, wenn die ganzen Beamten nun ausgerechnet da wären, um dem Bewohner der Wohnung 35 einen Besuch abzustatten? Dieser unüberlegte Bluff könnte sehr wohl meinen Untergang bedeuten. Glücklicherweise habe ich die richtige Nummer gezogen und der Polizist hat die Güte, mir aus dem Weg zu treten, nicht jedoch ohne mich sorgfältig gemustert zu haben.
    Die Tür von Wohnung 34 ist halb geöffnet. Ich erkenne im Vorbeigehen mehrere Beamte, geschäftig inmitten eines riesigen Durcheinanders: dreckiges Geschirr, Elektroteile, Kleider, Bücher, Computer, CD-ROMs, zerfetztes Papier. Am Arbeitstisch sitzend, versucht ein Techniker den Computer wiederzubeleben, während zwei Untergebene mit weißen Handschuhen den Wohnungsinhalt in Pappkartons verstauen.
    Joyce ist offensichtlich nicht zu Hause.
    Den Weg hätte ich mir sparen können. Und wie komme ich hier jetzt wieder raus?
    Ich gehe zur Tür von Wohnung 35 und klopfe, während ich mich frage, was ich demjenigen, der öffnet, wohl für eine Geschichte erzählen könnte. Natürlich fällt mir nichts ein. Während ich vor der Tür stehe und warte, beobachtet mich der Polizist voller Misstrauen. Sein Blick lastet auf meiner Tüte, als befände sich darin – statt Joyce’ feuchten Kleidern – eine selbstgebastelte Nagelbombe. Ich rücke mir eine Unschuldsmiene zurecht, während ich wieder und wieder zur Tür schaue (zahlreiche Druckstellen), zur Decke (Feuchtigkeitsflecken) und auf den Boden (nicht identifizierbare bräunliche Ränder). Nach einer Weile wird deutlich, dass sich, der Vorsehung sei Dank, niemand in Wohnung 35 aufhält.
    Es gibt ihn also doch, den Schutzgott der dreisten Lügner!
    Unter den argwöhnischen Blicken des Polizisten mache ich kehrt und steige behutsamen Schritts und mit stockendem Atem die Treppe wieder hinunter. Mein Herzschlag wird erst wieder normal, als ich an der frischen Luft bin. Unentschlossen streune ich ein wenig vor dem Gebäude herum, während ich die Tüte mit Joyce’ Kleidern unter meinem Arm betaste.
    Die Schneefräse kommt in umgekehrter Richtung zurück und spuckt in großen Garben Salz.

Die allgemeine Unwahrscheinlichkeit der Situation
    Der Flug 502 nach Newark soll
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