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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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morgens um 7:10 Uhr venezolanischer Zeit (VET) abfliegen.
    Noah und Simón, die gerade von Margarita eintreffen, haben eine knappe Viertelstunde, um ihn zu erreichen. Der Regen knallt mit Wucht gegen die Glaswände des Inlandsterminals, doch nichts deutet auf eine Verlangsamung des üblichen Treibens im Flughafen hin. Bei einigen Flügen wird eine zehnminütige Verspätung angezeigt, höchstens. Die Reisenden schlafen unbeirrt, verrenkt auf ihren Plastiksitzen. Von Zeit zu Zeit verkünden die Lautsprecher die Nummern einiger Flüge. Im Bistro wird unterschiedslos Rum und schwarzer Kaffee ausgeschenkt. Beruhigende Routine eines internationalen Flughafens.
    Noah und Simón durchqueren diese große Ruhe im Eilschritt und erspähen in extremis ihren Flugsteig. Eine Frau mit verschlafenem Blick kontrolliert ihr Ticket, schiebt sie ins Flugzeug und verschließt die schwere Luke hinter ihnen.
    Um Punkt 7:18 Uhr, genau als die alte Boeing 727 die Piste verlässt, beginnen die Anzeigetafeln des Flughafens im Gleichtakt zu blinken: Aufgrund der schlechten Witterung werden alle Flüge des Tages auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.
    Die beiden Reisenden bekommen davon nichts mit: Sie gewinnen an Höhe, verlassen den Luftraum über Caracas und kommen genau zum richtigen Zeitpunkt aus der Wolkendecke geflogen, um den Sonnenaufgang mitzuerleben.
    Simón nimmt die Ereignisse mit erstaunlicher Ruhe hin. Die Sonderbarkeit ihrer Abreise wird, das muss man sagen, von der allgemeinen Unwahrscheinlichkeit der Situation abgemildert: In einer Welt, in der man die Karibische See in zehntausend Metern Höhe überquert und dabei Britney Spears in der Endlosschleife hört, was sollte da normaler sein, als sich um zwei Uhr morgens, ohne jeden Abschied, davonzumachen, um die Weihnachtsfeiertage in der benachbarten Welthalbkugel zu verbringen?
    Mit der Nase gegen das Flugzeugfenster gedrückt bewundert Simón die Eiskristalle, ohne ein Wort zu sagen. Das Bordthermometer zeigt eine Außentemperatur von minus 40° Celsius an, eine Zahl, die alle Fassungskraft übersteigt.
    Auf dem Flughafen von Newark gehen die Formalitäten beim Zoll ohne Schwierigkeiten über die Bühne. Die zeitgleiche Ankunft eines halb chipewyanischen Vaters und eines halb venezolanischen Sohnes scheint den Zöllner nicht weiter zu verwundern. Mit einem Seufzer der Erleichterung steckt Noah die Reisepässe wieder ein und sie flitzen gleich weiter zum nächsten Flugsteig, zur nächsten Boeing, zu neuen Abenteuern.
    Das Terminal C gleicht einem Flüchtlingslager: Hunderte von Reisenden belegen jeden freien Winkel, sitzen auf ihrem Gepäck oder auf dem Boden. Eisregen hindert die Flugzeuge seit Stunden daran abzuheben, und vor den internationalen Flugschaltern drängt sich eine unübersichtliche Menschenmenge. Noah schaut auf den Monitoren nach: Der nächste Flug nach Montréal ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Das Ziel des heutigen Tages scheint weiter entfernt denn je zuvor.
    Sie lassen sich in einer freien Ecke nieder. Simón reagiert auf die widrigen Umstände mit Gelassenheit und macht sich daran, das Chaos um sie herum bis ins letzte Detail unter die Lupe zu nehmen. Ein paar Meter weiter ist auf einem Bildschirm als Dauersendung CNN Airport Network zu sehen.
    Ihre unmittelbare Sitznachbarin ist eine junge Frau um die dreißig. Sie hat kurze Haare, trägt einen zu großen Pullover und eine kleine Lesebrille. Lässig sitzt sie auf einem alten, marineblauen Seesack und blättert Chips essend in einem Reiseführer für die Dominikanische Republik.
    Noah verfolgt zerstreut CNN, einen Cocktail aus Nachrichten und Werbung, unterbrochen von Börsenmeldungen. Simón und die Frau beobachten einander heimlich. Beide scheinen neugieriges Interesse am anderen zu verspüren – zwei Vögel, die nebeneinander auf einer elektrischen Leitung sitzen. Schließlich deutet sie ein Lächeln an und hält ihm die Tüte hin.
    „Willst du?“
    Simón wirft einen misstrauischen Blick auf die rosafarbenen Knabbereien. Auf dem Etikett befinden sich sibyllinische orangefarbene Ideogramme – nichts, das einem erlaubte, die Art oder den Geschmack des Inhalts näher zu bestimmen.
    „Krabbenchips“, erklärt sie. „Die Japaner lieben das. Kennst du die Japaner?“
    „Ich kenne die Pokémons!“, jauchzt Simón.
    Beruhigt nimmt er einen Chip und beißt begeistert hinein. Über seinen Kopf hinweg lächeln Noah und die Frau einander höflich zu.
    „Ist das Ihr Sohn?“, fragt sie schließlich.
    Er nickt,
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