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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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ohne etwas zu sagen. Simón isst noch einen Chip – dann plötzlich beginnen die Monitore zu blinken. Vor einigen Reisezielen erscheinen neue Abflugzeiten. Ein großer Seufzer der Erleichterung geht durch das Terminal C, als das unverzügliche Boarding für Flüge nach Chicago, London und Santo Domingo angekündigt wird. Die Frau steckt den Reiseführer in ihre Tasche.
    „Ich muss los“, sagt sie und steht auf. „Alles Gute!“
    Simón winkt der Frau hinterher, die fortgeht und verschwindet, im wörtlichen Sinne aufgesogen von der Menge.
    Noah hat davon nichts mitbekommen. Schweiß fließt ihm in Strömen den Hals hinunter, seine Arme sind von einer Gänsehaut überzogen. Im Fernsehen berichtet ein Sonderbeitrag über gewaltige Überschwemmungen in Venezuela.
    Er will es zunächst für einen Irrtum halten, aber die Worte Flash Floodings in Venezuela lassen keine Zweideutigkeit zu. Ein Armenviertel von Caracas war von einer Lawine aus Schlamm und Trümmern im wahrsten Sinne des Wortes entzweigeschnitten worden. Schlagzeilen ziehen über den Werten des NASDAQ entlang: Es ist die Rede von mehreren tausend Toten und Zehntausenden zerstörter Häuser.
    In Noahs Kopf lodern die Fragen. Gab es Erdrutsche auf Margarita? Wurde Don Eduardos Haus fortgerissen? Befinden sich Arizna und Bernardo in Sicherheit?
    Er schüttelt den Kopf. Diese jäh auftauchende Überschwemmung übertrifft alle Unwahrscheinlichkeiten des heutigen Tages. Simón und er haben doch ein paar Stunden zuvor in Caracas noch das Flugzeug gewechselt, und nichts hatte auf eine solche Katastrophe hingewiesen. Ihn überkommt plötzlich das Gefühl, viel länger unterwegs gewesen zu sein als in Wirklichkeit.
    Simón zupft ihn ungeduldig am Ärmel.
    „Was denn?“, fragt Noah.
    „Sie haben eben den Flug nach Montréal durchgesagt.“
    Noah kommt zurück auf den Boden der Realität. Er schaut auf die Abflugmonitore: Er hat recht, der kleine Filou, ihr Flug geht in zwanzig Minuten von Gate C 42 – am anderen Ende des Terminals. Sie schnappen sich ihr Gepäck und preschen davon.

Ein kleiner Kreis
    Die Geschäfte sind seit mindestens einer Stunde geschlossen. Es ist Nacht, es schneit und die Rue Mozart gleicht einer verlassenen Landebahn, gesäumt von Weihnachtsbeleuchtung. Ecke Rue Casgrain knistert der Lachs der Fischhandlung Shanahan nach Kräften zwischen den Windböen, beharrlich entschlossen, einen imaginären Fluss zu den Sielen seiner Vorfahren hinaufzuschwimmen.
    Noah hat sich in einer Telefonzelle untergestellt und beobachtet seinen gefrorenen Atem. Es ist kaum 5 Grad unter Null, aber noch nie im Leben war ihm so kalt gewesen – außer vielleicht Heiligabend 1979 auf einem Truckerparkplatz im südlichen Alberta, nachdem die Wohnwagenheizung den Geist aufgegeben hatte. Er drückt das gefrorene Plastik des Hörers an sein linkes Ohr. Am anderen Ende der Leitung hört man nur Rauschen und metallisches Klappern, und er fragt sich, ob er die richtige Nummer gewählt hat. Nach etwa einer Minute durchdringt die schwache Stimme einer Telefonistin die Störimpulse.
    „Hi-Guten-Abend-womit-kann-ich-Ihnen-helfen-how-can-I-help-you?“
    Noah bleibt für ein paar Sekunden sprachlos. Dieser Akzent klingt weder kanadisch, noch amerikanisch, noch lateinamerikanisch, sondern wie eine Art Amalgam, das von überall und nirgends zugleich stammt – als ob es nicht wirklich die Stimme eines Menschen wäre, sondern einfach ein Schuss DNS, genau für diesen Zweck zusammengestellt, der dann in die Schaltkreise der Telefonanlage injiziert wurde. Ein Wesen ohne Akzent, ohne Nationalität und ohne gewerkschaftliche Forderungen.
    „Ich hätte gerne ein R-Gespräch nach Venezuela“, erklärt Noah nach einem kurzen Zögern.
    „Wie ist die Nummer?“
    Er sagt die Vorwahl von Nueva Esparta und die Nummer des Anwesens der Burgos, wobei er nervös die Gegend um die Zelle herum beobachtet. Keine wahrnehmbare Bewegung in der Umgebung bis auf die schneebeladenen Sturmböen und das Knistern des Lachses über der Fischhandlung Shanahan. Am anderen Ende der Leitung herrscht fieberhaftes Schweigen. Im Hintergrund hört man sehr schwach das Klappern einer Tastatur – wahrscheinlich eine Tonbandaufzeichnung, die darauf abzielt, den Eindruck zu erwecken, die internationalen Telefonistinnen hätten tatsächlich eigene Finger, also auch einen Körper.
    „Es tut mir leid“, sagt sie schließlich. „Die Verbindung ist unterbrochen.“
    „Sie meinen, die Verbindung zum Hausanschluss ist
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