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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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Merkmale. In der Mitte von Seite 58 befand sich beispielsweise ein großer Fleck bräunlichen Blutes. Zwischen den Seiten 42 und 43 lag eine versteinerte Mücke, ein winziger blinder Passagier, der überraschend plattgedrückt worden war. Und auf Seite 23 war ein geheimnisvolles Wort an den Rand gekritzelt worden: „Rokovoko“.
    Man nannte es auch das Buch ohne Gesicht, denn sein Einband war vor Urzeiten abgerissen worden. Es handelte sich um eine Art Sammlung von Seemannsgeschichten, auf deren erster Seite eine Karibikkarte abgebildet war, die Noah immer wieder in Staunen versetzte. Wie konnte es neben solchen Wassermassen nur so wenig Land geben? Die Landkarte von Saskatchewan sah dagegen aus wie eine Negativaufnahme der Karibik: Für jede Insel gab es einen See, und das Gräsermeer war der Ozean.
    An die Stelle der Prärie rückten die Schiffbrüchigen, die greulichen Piratengeschichten und die Verheißung von Goldschätzen, die in weiter Ferne unter Palmen vergraben liegen. Das Buch war auf Englisch und Französisch verfasst worden, gespickt mit sonderbaren Seemannsworten und veralteten Wendungen. Noah ließ sich aber nicht groß beeindrucken: Wenn er Worte wie Wa-Pii Moos-Toosis gelernt hatte, konnte ihn nichts davon abhalten, zwischen Lögel und Klüse, Besangaffel und Besanklau, Bugspriet und Klüverbaum hindurchzumanövrieren.
    Er brauchte fast ein Jahr, um mit dem Buch ohne Gesicht fertig zu werden, und diese heroische Lektüre prägte ihn auf untilgbare Weise: Er würde niemals wieder ein Buch von einer Straßenkarte, eine Straßenkarte von seinem Stammbaum und seinen Stammbaum von dem Geruch von Getriebeöl unterscheiden können.
    Sarah und Jonas hatten sich noch einige Jahre geschrieben. Diese Korrespondenz machte den Grundregeln der Logik eine lange Nase – Jonas, wie sie beide auch, war nie fest an einem Ort geblieben. Nachdem er einige Monate in Vancouver gelebt hatte, zog er weiter nach Norden, von Dorf zu Dorf, von Job zu Job, folgte der Westküste hinauf in Richtung Alaska, ohne sich dabei jemals allzu weit vom Wasser zu entfernen. Während dieser Zeit fuhren Sarah und Noah kreuz und quer durch Saskatchewan, verbrachten einige Zeit zum Arbeiten in Moose Jaw und kehrten zum Überwintern in einen Vorort von Winnipeg zurück.
    Zusammengenommen machten diese beiden Irrfahrten jeden Briefwechsel sehr unwahrscheinlich, und Sarah hatte ein eigenes Zustellungssystem entwickeln müssen.
    Wenn es an der Zeit war, einen Brief abzuschicken, breitete sie auf Granpas Motorhaube die Straßenkarten vom Westen des Kontinents aus und versuchte zu erraten, wo Jonas sich wohl aufhalten mochte. Wenn er beispielsweise gerade ein paar Wochen in Whitehorse verbracht hatte, dachte sie, ihn in Carmacks erwischen zu können. Doch dann änderte sie ihre Meinung: Carmacks war zu weit vom Meer entfernt. Jonas war vermutlich weiter dem Highway 1 in Richtung Anchorage gefolgt und befand sich sicher irgendwo auf dem Weg dorthin. Sie adressierte den Brief also postlagernd an die Poststelle in Slana und gab als Absenderadresse die Poststelle von Assiniboia an, wo sie in den nächsten Wochen hindurchfahren wollte.
    Hatte sie Glück, bekam Jonas ihren Brief und würde mit einer Postkarte nach Assiniboia antworten; ansonsten würde sich der Umschlag im Nichts verlieren und Sarah vermerkte auf ihren Karten einen Schuss ins Wasser.
    Für den gesunden Menschenverstand ist schwer nachvollziehbar, dass es bei diesem unzuverlässigen System überhaupt Treffer geben konnte. Dennoch schafften sie es, mal besser, mal schlechter, sich ungefähr einen Brief im Monat zuzuschicken. Dieser absurde Briefwechsel hatte Bestand, bis eines Tages eine rätselhafte Postkarte eintraf.
    Auch 13 Jahre später erinnerte Noah sich noch genau an diesen Tag.
    Sie hatten in Mair Station gemacht, einem winzigen Nest, das sich an den Parkplatz eines Vertragshändlers für Mähdrescher anklammerte. Im Zentrum des Dorfes bildeten die üblichen drei Institutionen ein gleichseitiges Dreieck: das Gebäude der Landwirtschaftlichen Genossenschaft ( Founded in 1953 ), die Poststelle (S0C 0R1) und das Restaurant Brenda’s ( Heute: Fish n’ Chips, Dessert, Getränk, $3,95 ).
    Nachdem sie einen misstrauischen Blick auf die Karte des Restaurants geworfen hatten, überquerten Noah und Sarah die Straße in Richtung Poststelle.
    Sie betraten Hunderte von Poststellen im Jahr, kurze Zwischenstopps, deren Noah aber nicht überdrüssig wurde. Er mochte den glänzenden Stahl der
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