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Das Hagebutten-Mädchen

Das Hagebutten-Mädchen

Titel: Das Hagebutten-Mädchen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Samstag, 20. März, 7.03 Uhr
    E rol Radzömir war in seiner Heimat stolzer Besitzer eines Eisenwarengeschäftes gewesen. Und bis eines Tages die kurdischen Rebellen aus den Bergen kamen, um sich, mit schweren Gewehren im Anschlag, in seinem Laden mit Werkzeugen auszurüsten, bis zu diesem Tag also, an dem er für die türkische Regierung zu einem Feind wurde, war er auch ein Mann gewesen, der geachtet war und der sich und seiner großen Familie etwas bieten konnte.
    Nun war er dafür zuständig, dass auf den Straßen einer kleinen Insel in der kalten Nordsee keine Pferdeäpfel auf der Straße lagen. Die Einheimischen mochten ihn, manche grüßten sogar freundlich, wenn sie ihn mit dem Fahrrad überholten, während er mit Besen und Schaufel den faserigen Kot von den steinigen Straßen kratzte. Er wusste, es gab niemanden auf Juist, der diesen Job übernehmen wollte. Vielleicht riefen sie deswegen so dankbar ihr knappes »Moin« im Vorbeifahren. Er war der Köttelfeger. Doch seine Familie war sicher, nur das zählte. Die Älteste hatte gerade auf dem Festland die ersten Abiklausuren geschrieben und der Jüngste lernte am Nachmittag im Inselhuus Plattdeutsch. Die Kinder waren hier zu Hause. Sie tranken morgens lieber Tee als den starken, süßen Kaffee, den seine Frau so wunderbar zubereitete und der nach Heimat schmeckte. Es war nicht schlecht hier. Viele Schicksalsgenossen hatten es weit schlechter erwischt: Sie lebten in Containern in wirklich endlos scheinenden Großstädten, atmeten Tag für Tag die schmutzige Luft ein und mussten sich sogar manchmal gegen Fremdenhass zur Wehr setzen. Schlimm musste das sein, dachte Radzömir.
    Er war morgens immer einer der Ersten auf den schmalen, hellbraun gepflasterten Straßen der Insel. Hinter den Fenstern der rot geklinkerten Pensionen und Hotels und Geschäftshäuser war es noch dunkel an diesem Samstagmorgen im März. In zehn Tagen ging die Saison wieder los, dann sah es um sieben Uhr früh schon ganz anders aus, dann fuhr der Bäcker mit dem schweren, schwarzen Fahrrad die warmen Brötchen zur Filiale am Kurplatz und die ersten Pferdekutschen brachten Gepäck von abreisenden Gästen zum Hafen. Doch heute war es wie ausgestorben. Sie schliefen ihren Rausch aus, die Insulaner.
    Gestern Abend hatte im Haus des Kurgastes auf der Düne ein lautes, feuchtfröhliches Folkloretreffen stattgefunden. Die anderen Inseln waren zu Gast. Borkum, Norderney, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog, Wangerooge. Alle Mann auf Juist. Sie trugen dicke Trachten und Holzschuhe an den Füßen. Radzömir mochte Folklore. Ob Ostfriesland oder Kurdistan, die gemeinsamen Lieder und die uralten Tänze waren sich überall ähnlich. Sie erzählten immer Geschichten von Liebe und Heimweh. Nur, dass man in seiner Heimat nicht so viel Alkohol dabei trank.
    Gestern Abend musste es wirklich hoch hergegangen sein. Er fand leere Bierdosen im Rinnstein und zwei Häuserecken waren mit den angetrockneten Resten von Erbrochenem beschmutzt. Wie nach einer Schlacht, dachte Radzömir. Bis nächste Woche musste alles sauber sein. Schon am Montag würden sie alle vor ihren Häusern stehen und die Fenster putzen und die Grassoden zwischen den Pflastersteinen herauskratzen. Denn bald fingen die Osterferien an und dann kamen die Gäste auf die kleine, idyllische Insel, auf ein sauberes Stückchen Erde ohne schmutzige Luft und Fremdenhass, dann …
    Er ließ den schweren Griff des Handkarrens fallen und starrte in das Schaufenster. Da die Beleuchtung noch nicht angeschaltet war, konnte er sich nicht sicher sein, ob das, was er zwischen den alten, dunklen Bildern, den messingfarbenen Kompassrosen und dem anderen wild durcheinander geworfenen Kram zu erkennen glaubte, ob das wirklich ein Mensch war. Er zögerte. Wenn es ein Mensch war, dann wollte er keinen Schritt weiter gehen. Er hatte in seiner Heimat schon zu viele Tote gesehen. Eigentlich hatte er gehofft, dass er nie wieder einen sehen müsste.
    Und doch näherte sich Radzömir dem kleinen Trödelladen. Vielleicht schlief diese Gestalt auch nur. Vielleicht.
    Er wandte sich ab. Das kleine Polizeirevier war nicht weit von hier entfernt. Er ließ den Holzwagen mit dem Pferdemist mitten auf der Straße stehen und rannte los. Radzömir kannte den Mann im Schaufenster. Es war ein guter Mann.

Samstag, 20. März, 7.05 Uhr
    B umm bumm bumm.
    Axel Sanders’ Kopf machte Musik. Hämmernde, kreischende Rummtata-Musik. Früher hatte er nicht so viel Alkohol getrunken. Als er noch in
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