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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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niemanden: Der Kerl war weiß, leicht rosa sogar in den Gelenken – und Sarah verlor, indem sie ihn heiratete, ein für alle Mal ihren Status als Indianerin, mitsamt dem Recht, in einem Reservat zu wohnen.
    Diese verwaltungstechnische Spitzfindigkeit erlangte zehn Monate nach der Hochzeit höchste Bedeutung, als sich Sarah vom ehelichen Wohnsitz davonmachte – mit einem blauen Auge, einem auf die Schnelle gepackten Müllsack voller Kleidung und dem festen Entschluss, nie wieder dorthin zurückzukehren. Sie borgte sich Bills Auto mit Wohnanhänger und begann, die Gegend von den Rockies bis nach Ontario zu durchkämmen, je nachdem, wohin die Saisonarbeiten sie verschlugen.
    Als das Ministerium für indianische Angelegenheiten achtzehn Jahre später den Indian Act mit Zusatzartikeln versah, hätte Sarah ihren Status als Indianerin wieder einfordern können. Die dafür notwendigen Schritte würde sie jedoch niemals eingeleitet haben: Sie würde sich in der Zwischenzeit so gut an das Leben unterwegs gewöhnt haben, dass sie es gar nicht mehr in Erwägung zog, sich jemals wieder in einem Reservat einzuschließen. Sie ließe sich, bekräftigte sie immer wieder gerne, auf gar keinen Fall von einer Handvoll Beamter sagen, ob sie Indianerin sei oder nicht. Ihr Stammbaum weise zwar ein paar französischsprachige Einschläge auf, aber schon drei Generationen zurück ließen sich nur noch alte indianische Nomaden finden, die sesshaft gemacht und anschließend in unzähligen, exotisch benannten Reservaten geparkt wurden: Sakimay, Peepeekisis, Okanese, Poor Man, Star Blanket, Little Black Bear, Standing Buffalo, Muscowpetung, Day Star, Assiniboine.
    Ein halbes Dutzend dieser Ahnen spukte noch immer in ihrem Wohnwagen, saß für die Ewigkeit am Küchentisch aus sternenbesätem Holzimitat. Reglose und schweigsame Geister, die die vorbeiziehende Landschaft betrachteten und die sich fragten, wo zum Teufel all die Büffel abgeblieben waren.
    Noahs Vater stammte seinerseits von der weit entfernten Atlantikküste. Er kam aus einer akadischen Familie aus der Gegend von Beaubassin, sesshaft und dickköpfig, die durch die Briten in die abgelegensten Winkel ihrer amerikanischen Kolonien verschleppt wurden: Massachusetts, Carolina, Georgia, Maryland, New York, Pennsylvania, Virginia.
    Noah mochte den Kontrast zwischen den beiden Seiten seines Stammbaums, das Paradox, ein Nachkomme sowohl der Reservate als auch der Deportation zu sein. Seine Begeisterung beruhte jedoch auf einem historischen Fehler, da seine Vorfahren in Wirklichkeit gar nicht deportiert worden waren. Genau wie eine gewisse Anzahl von Akadiern waren sie kurz vor dem Grand Dérangement, der Deportation, geflohen, um Schutz in Tête-à-la-Baleine zu suchen, einem isolierten Dorf am Sankt-Lorenz-Golf, das über keine Straße zu erreichen war.
    Und an diesem abgelegenen Ort wurde zwei Jahrhunderte später Noahs Vater geboren: Jonas Doucet.
    Er war der siebte Sprössling einer umfangreichen Familie: acht Brüder, sieben Schwestern, fünf Cousins, zwei Onkel, eine Tante, ein Paar Großeltern – insgesamt drei Generationen von Doucets, die sich in eine kleine Hütte drängen mussten. Er wurde auf den Namen Jonas getauft, ein Glücksfall, denn aus dem biblischen Repertoire hätten ihm auch weniger klangvolle Namen wie Ilia, Ahab oder Ismael beschert werden können.
    In dieser verlorenen Ecke des Kontinents wurde man schnell erwachsen und mit vierzehn Jahren streunte Jonas durch den Montréaler Hafen – ungefähr achthundert Seemeilen flussaufwärts von seinem Heimatdorf. Er ging an Bord eines Frachtschiffs mit Weizen, das nach Kuba unterwegs war, eine Hin- und Rückfahrt, die nicht länger als drei Wochen hätte dauern sollen. Jonas wechselte im Hafen von Havanna jedoch den Kahn und sprang an Bord eines Frachtschiffs, das sich auf dem Weg nach Trinidad befand. Ein drittes Frachtschiff brachte ihn nach Zypern. Von Zypern aus durchfuhr er den Suezkanal in Richtung Borneo und von Borneo machte er sich auf nach Australien.
    Etappe für Etappe hat Jonas so ungefähr zwölf Mal den Erdball umrundet. Je mehr Häfen er vorbeiziehen sah, umso höher stieg er im Dienstgrad, kam aus der Küche in den Motorraum, vom Motorraum zu den Funkern. Nach einigen Jahren als Assistent bekam er eine eigene Lizenz und wurde seines Zeichens Funker.
    Jonas liebte diesen sonderbaren Beruf, auf halber Strecke zwischen Elektronik und Schamanismus, bei dem der Funker sich in einer rhythmisierten, für den Laien
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