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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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Kopf in eine Wolke pinkfarbene Mineralwolle getaucht.
    Auf den ersten Blick scheint dieser alte Kompass völlig banal, vergleichbar mit jedem anderen Kompass. Bei eingehender Betrachtung kann man allerdings feststellen, dass er nicht ganz genau nach Norden zeigt.
    Einige Leute behaupten, immer genau sagen zu können, wo Norden ist. Ich bin da wie die meisten Menschen: Ich brauche einen Anhaltspunkt. Wenn ich beispielsweise in der Buchhandlung hinter dem Tresen sitze, weiß ich, dass sich der magnetische Nordpol in 4238 km Luftlinie hinter dem Regal mit den Bob Morane befindet – was auf der Landkarte der Ellef-Ringnes-Insel entspricht, einem verlorenen Kieselstein in der ungeheuren Weite des Königin-Elisabeth-Archipels.
    Statt jedoch auf das Regal mit den Bob Morane zu zeigen, zeigt mein Kompass einen Meter fünfzig weiter nach links, direkt auf die Ausgangstür.
    Es kann tatsächlich passieren, dass sich das Magnetfeld unseres Planeten lokal verzerrt und der magnetische Norden nicht mehr ganz an seinem eigentlichen Platz angezeigt wird. Mögliche Gründe für eine solche Anomalie gibt es viele: ein großes Eisenvorkommen im Keller, die Wasserrohre im Badezimmer des Nachbarn über uns oder das Wrack eines Ozeandampfers, das unter der Rue Saint-Laurent vergraben liegt. Leider sind diese Theorien alle sehr zweifelhaft, da mein Kompass immer links am Nordpol vorbeizeigt, ganz egal an welchem Ort ich ihn benutze. Diese Erkenntnis bringt zwei unbequeme Fragen mit sich:
    – Was ist der Grund für diese magnetische Anomalie?
    – Wohin (zum Teufel) zeigt der Kompass dann?
    Der gesunde Menschenverstand legt nahe, dass die größte Anomalie des lokalen Magnetfeldes meine lebhafte Fantasie ist und dass es sinnvoller wäre aufzuräumen statt rumzuträumen. Aber Anomalien sind wie Zwangsvorstellungen: Jeder Widerstand ist zwecklos.
    Ich erinnerte mich vage an meinen Erdkundeunterricht, die magnetische Deklination, den Wendekreis des Krebses, den Polarstern. Es war an der Zeit, dieses vergessene Wissen in der Praxis anzuwenden. Ausgestattet mit einem Stapel Erdkundebücher und einem Arsenal von Karten in verschiedenen Maßstäben, machte ich mich daran zu bestimmen, wohin mein Kompass genau ausgerichtet war.
    Nach einigen ermüdenden Berechnungen kam ich auf eine Abweichung von 34° westlich. Folgte man dieser Richtung, durchquerte man die Insel Montréal, die Regionen Abitibi und Témiscamingue, Ontario, die Prärie, Britisch Kolumbien, die Prinz-von-Wales-Insel, die Südspitze Alaskas, einen Zipfel vom nördlichen Pazifik und die Aleutischen Inseln, wo man schließlich auf der Insel Umnak landete – in Nikolski genau genommen, einem winzigen Dorf mit 36 Einwohnern, 5000 Schafen und einer unbestimmbaren Anzahl von Hunden.
    Daraus konnte man schließen, dass der Kompass nach Nikolski zeigte – eine Erkenntnis, die mich durchaus befriedigte, auch wenn sie den Nachteil hatte, das Ganze eher zu verschleiern als zu erklären.
    Es kann nicht alles perfekt sein.
    Manchmal fragt ein Kunde, was das denn für ein komischer Talisman sei, den ich da um den Hals trage. Ich antworte dann:
    „Ein Nikolski-Kompass.“
    Der Kunde lächelt ohne zu verstehen und wechselt höflich das Thema. Er fragt beispielsweise, in welcher Abteilung bei uns die Bob Morane stehen.
    Vielleicht sollte ich dazu sagen, dass ich nicht in einem Geographischen Institut oder Globus-Laden arbeite. Eigentlich ist S. W. Gam Inc. ein Geschäft, das sich ausschließlich dem Erwerb und dem Wiederverkauf von gebrauchten Büchern widmet. In anderen Worten, eine Antiquariatsbuchhandlung. Eines schönen Herbstes, als ich gerade vierzehn war, hat mich Madame Dubeau, meine geschätzte Chefin, eingestellt. Ich verdiente damals 2,50 $ die Stunde und akzeptierte das miserable Gehalt ohne Weiteres, allein um inmitten all dieser Büchern zu thronen und nichts anderes tun zu müssen, als zu lesen.
    Ich arbeite hier seit nunmehr vier Jahren, eine Zeitspanne, die sich um einiges länger anfühlt, als sie in Wirklichkeit ist. In der Zwischenzeit bin ich mit der Schule fertig geworden, meine Mutter ist gestorben und meine wenigen Jugendfreunde sind von der Bildfläche verschwunden. Einer von ihnen ist mit einem alten Chrysler nach Mittelamerika abgehauen und man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Ein zweiter studiert Meeresbiologie an einer norwegischen Uni. Kein Lebenszeichen. Und die übrigen haben sich ganz einfach in Luft aufgelöst, vom Leben verschlungen.
    Und ich sitze immer
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