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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen
Autoren: Maggie Stiefvater
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PROLOG
SHELBY
    Ich kann leise sein, so leise. Hast zerstört die Stille. Ungeduld verdirbt die Jagd.
    Ich lasse mir Zeit.
    Lautlos bewege ich mich durch das Dunkel des Waldes. Die Nachtluft ist voller Staub, das Mondlicht fügt die einzelnen Partikel zu Sternbildern zusammen, wo es sich durch das Astwerk über mir stiehlt.
    Das einzige Geräusch ist mein Atem, langsam eingesogen durch meine gebleckten Zähne. Behutsam setze ich meine Pfoten im feuchten Unterholz auf. Meine Nasenlöcher blähen sich. Ich lausche meinem Herzschlag über dem leisen Murmeln und Gurgeln eines nahen Baches.
    Ein trockener Zweig droht unter meinem Fuß zu zerbrechen.
    Ich halte inne.
    Ich warte.
    Ich laufe langsam weiter. Behutsam hebe ich die Pfote von dem Zweig. Leise, denke ich. Mein Atem streicht kalt über meine Vorderzähne. In der Nähe ein Rascheln, lebendig, es erregt meine Aufmerksamkeit und hält sie. Mein Magen ist zusammengezogen, leer.
    Ich dringe weiter vor in die Dunkelheit. Meine Ohren stellen sich auf; das verängstigte Tier ist ganz nah. Ein Hirsch? Ein Nachtinsekt füllt einen langen Augenblick mit einer Art Schnalzen, bevor ich mich wieder bewege. Zwischen den Lauten schlägt mein Herz, schnell. Wie groß ist das Tier? Wenn es verletzt ist, spielt es keine Rolle, dass ich allein jage.
    Etwas streift meine Schulter. Weich. Zart.
    Ich will zusammenzucken.
    Ich will herumfahren und es zwischen den Zähnen zermalmen.
    Aber dafür bin ich zu leise. Ich erstarre, für einen langen, langen Moment, und dann wende ich den Kopf, um zu sehen, was dort noch immer sanft wie eine Feder mein Ohr streift.
    Es ist etwas, was ich nicht benennen kann; es schwebt durch die Luft, wirbelt in der Brise umher. Wieder und wieder und wieder berührt es mein Ohr. Mein Verstand brennt und verbiegt sich unter der Anstrengung, ihm einen Namen zu geben.
    Papier?
    Ich verstehe nicht, was es dort macht, warum es wie Laub an dem Zweig hängt, wenn es doch kein Laub ist. Es macht mich nervös. Darunter, auf dem Boden verteilt, liegen Dinge, die durchtränkt sind mit einem fremden, feindlichen Geruch. Die Haut eines gefährlichen Tiers, abgeworfen und zurückgelassen. Ich scheue davor zurück, die Zähne gefletscht, und da, plötzlich, sehe ich meine Beute.
    Aber es ist kein Hirsch.
    Es ist ein Mädchen, das sich im Dreck windet, die Hände in die Erde gekrallt. Sie wimmert. Wo das Mondlicht sie streift, ist sie reinweiß vor dem schwarzen Hintergrund. Sie verströmt Wellen von Angst. Meine Nasenlöcher füllen sich damit. Ich werde noch nervöser, spüre, wie das Fell in meinem Nacken kribbelt und sich aufstellt. Sie ist kein Wolf und doch riecht sie wie einer.
    Ich bin leise.
    Das Mädchen bemerkt mich nicht.
    Als sie die Augen öffnet, bin ich direkt vor ihr, meine Nase berührt sie fast. Zuvor hat sie mir ihren zarten, warmen Atem ins Gesicht gekeucht, aber als sie mich sieht, hält sie inne.
    Wir blicken einander an.
    Mit jeder Sekunde, die ihre Augen in meine sehen, stellt sich mehr Fell in meinem Nacken und auf meinem Rücken auf.
    Ihre Finger krümmen sich auf dem Boden. Als sie sich bewegt, riecht sie mit einem Mal weniger nach Wolf und mehr nach Mensch. Gefahr, zischt es in meinen Ohren.
    Ich zeige ihr meine Zähne; ich weiche zurück. Alles, woran ich denken kann, ist Rückzug, bis ich nur noch Bäume um mich habe, bis genügend Distanz zwischen uns ist. Plötzlich fällt mir das Papier in dem Baum und die abgelegte Haut am Boden wieder ein. Ich fühle mich umzingelt – das seltsame Mädchen vor mir, das fremdartige Laub hinter mir. Mein Bauch streift den Waldboden, als ich mich zusammenkauere und den Schwanz zwischen die Hinterbeine kneife.
    Mein Knurren setzt so langsam ein, dass ich es auf der Zunge spüre, bevor ich es höre.
    Ich bin gefangen zwischen ihr und den Dingen, die nach ihr riechen, die in den Zweigen hängen und auf dem Boden liegen. Die Augen des Mädchens liegen immer noch auf meinen, fordern mich heraus, halten mich fest. Ich bin ihre Gefangene und ich kann nicht entkommen.
    Als sie schreit, töte ich sie.

KAPITEL 1
GRACE
    Jetzt war ich also nicht mehr nur eine Werwölfin, sondern auch noch eine Diebin.
    Ich hatte mich am Rand des Boundary Wood als Mensch wiedergefunden. An welchem Rand genau, wusste ich nicht; der Wald war riesig und dehnte sich meilenweit aus. Meilen, die ich als Wolf mühelos zurückgelegt hätte. Als Mädchen nicht. Es war ein warmer, angenehmer Tag – ein herrlicher Tag, am Standard eines Frühlings
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