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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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deren genaue Bezeichnung sie sich manchmal wenig scherte. Ihr Brot verdiente sie mit armseligen Notbehelfen: Sie bot Passanten Gedichte von Richard Brautigan an, verkaufte Postkarten an Touristen, jonglierte, machte in Motels die Zimmer sauber und stahl in Supermärkten.
    Dieses abenteuerliche Leben führte sie vier Jahre lang. Dann, im Juni 1970, hatten wir uns mit zwei riesigen, zum Bersten vollen Militärrucksäcken im Hauptbahnhof von Vancouver eingefunden. Meine Mutter hatte ein Zugticket nach Montréal gekauft und wir durchquerten den Kontinent in entgegengesetzter Richtung, sie in ihren Sitz gekauert, ich in ihre Gebärmutter eingeschmiegt – unsichtbares Komma eines noch zu schreibenden Romans.
    Nach ihrer Rückkehr hatte sie sich kurzfristig mit meinen Großeltern versöhnt – ein strategischer Waffenstillstand, dessen Ziel es war, die nötige Bankbürgschaft für den Kauf eines Hauses zu bekommen. Kurz darauf wurde sie die Besitzerin eines Bungalows in Saint-Isidore Junction, nur einen Katzensprung von Châteauguay entfernt, dort wo später der südliche Speckgürtel Montréals entstehen sollte, wo man sich damals aber noch ganz wie auf dem Land fühlen konnte, mit alten Häusern, Brachen und einem beeindruckenden Bestand an Stachelschweinen.
    So stand sie fortan in der Pflicht ihrer Hypothek und hatte sich eine Arbeit als Beraterin in einem Reisebüro in Châteauguay suchen müssen. Ironischerweise setzte diese Anstellung ihrem jugendlichen Vagabundendasein ein Ende und damit auch dem Tagebuchschreiben.
    Das letzte Heft endete mit einer nicht datierten Seite von ungefähr 1971. Ich klappte es gedankenverloren wieder zu. Von allen Auslassungen, die die Prosa meiner Mutter durchzogen, war die wichtigste Jonas Doucet.
    Von diesem unsteten Erzeuger gab es nichts als ein Bündel Postkarten in unleserlicher Schrift, von denen die letzte aus dem Sommer 1975 stammte. Ich hatte oft versucht, das Geheimnis dieser Karten zu lüften, aber diese Hieroglyphen ließen sich einfach nicht entziffern. Sogar die Poststempel gaben mehr Informationen preis, Meilensteine eines Parcours, der im Süden Alaskas begann, in den Yukon aufstieg und dann hinab Richtung Anchorage ging und schließlich bis zu den Aleuten führte – genau genommen zur dortigen Militärbasis, auf der mein Vater Arbeit gefunden hatte.
    Unter dem Stapel Postkarten befand sich ein kleines verknautschtes Päckchen und ein Brief der US Air Force.
    Dem Brief konnte ich nichts Neues entnehmen. Das Päckchen hingegen erhellte einige vergessene Winkel in meinem Gedächtnis. Heute war es plattgedrückt, doch einst enthielt es einen Kompass, den Jonas mir zum Geburtstag geschickt hatte. Dieser Kompass kam mir wieder in den Sinn, mit ganz erstaunlicher Genauigkeit. Wie hatte ich ihn nur vergessen können? Als greifbarer Beweis für die Existenz meines Vaters war er der Nordstern meiner Kindheit gewesen, das glorreiche Instrument, das es mir ermöglicht hatte, Tausende imaginäre Ozeane zu durchqueren. Unter welchem Haufen Kram mochte er jetzt liegen?
    Von einem plötzlichen Eifer gepackt, durchstöberte ich alle Winkel des Bungalows, leerte Schubladen und Schränke, schaute hinter Truhen und unter Teppiche und kroch bis in die dunkelsten Kammern.
    Ich bekam den Kompass um drei Uhr morgens zu fassen, eingeklemmt zwischen einer Taucherfigur für das Aquarium und einem apfelgrünen Körbchen ganz unten in einem Pappkarton, der quer auf zwei Balken oben im Dachgebälk stand.
    Mit den Jahren hatte sich die äußere Erscheinung dieses Fünf-Dollar-Spielzeugs, das er damals sicher neben der Registrierkasse einer Eisenwarenhandlung in Anchorage gefunden hatte, nicht unbedingt verbessert. Glücklicherweise hatte die langjährige Nachbarschaft zu den Metallspielzeugen den Magneten nicht entmagnetisiert, denn er trippelte noch immer wacker in den (vermeintlichen) Norden.
    Der Kompass war kein gewöhnlicher Nadelkompass, sondern die Miniaturausgabe eines Schiffskompasses. Er bestand aus einer durchsichtigen Plastikkugel, in der in einer hellen Flüssigkeit eine magnetisierte und mit einer Gradeinteilung versehene zweite Plastikkugel schwamm. Die Einfassung einer Kugel in die andere, nach Art einer winzigen Matroschka-Puppe, sorgte für die gyroskopische Stabilität, der auch die schwersten Stürme nichts anhaben konnten: Selbst bei hohem Seegang würde der Kompass immer waagerecht bleiben und Kurs halten.
    Ich schlief auf dem Dachboden ein, den Kompass auf der Stirn und den
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