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Tödlicher Irrtum

Tödlicher Irrtum

Titel: Tödlicher Irrtum
Autoren: Agatha Christie
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    A ls er zur Fähre kam, dämmerte es bereits.
    Er wäre viel früher dort gewesen, wenn er seine Abfahrt nicht immer wieder hinausgezögert hätte.
    Er hatte bei Freunden in Redquay zu Mittag gegessen, und während er sich möglichst unbefangen an der allgemeinen Unterhaltung beteiligte, fürchtete er sich insgeheim vor der ihm bevorstehenden Aufgabe. Er nahm die Einladung seiner Freunde, noch zum Tee zu bleiben, an; nach dem Tee jedoch konnte er seinen Aufbruch nicht länger hinausschieben.
    Das Taxi wartete schon auf ihn. Er verabschiedete sich, und bald fuhr er über die zehn Kilometer lange Küstenchaussee bis zu einer waldigen Straße, die landeinwärts führte. Der Fahrer bog in diese Straße ein, und kurz darauf kamen sie zu einem kleinen Steinkai am Fluss.
    Dort stieg er aus und läutete die große Glocke am Ufer, bis er die Aufmerksamkeit des Fährmannes auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses erregte.
    »Soll ich hier auf Sie warten?«, fragte der Fahrer.
    »Nein, ich habe ein Taxi bestellt, das mich drüben in einer Stunde abholen und direkt nach Drymouth fahren wird.«
    Der Mann nahm Fahrgeld und Trinkgeld dankend entgegen, blickte auf den von leichten Nebelschwaden verhangenen Fluss und bemerkte:
    »Da kommt die Fähre schon.«
    Dann sagte er gute Nacht, wendete seinen Wagen und fuhr davon.
    Arthur Calgary blieb allein am Kai zurück, allein mit seinen Gedanken, allein mit der Angst vor seiner schwierigen Mission. Wie wild und verlassen diese Gegend doch ist, dachte er, man könnte meinen, an einem einsamen See in Schottland zu sein; und doch sind die Hotels, die Läden, die Bars und die Menschenmengen von Redquay nur wenige Kilometer entfernt.
    Die Ruder des Fährbootes plätscherten leise, als es an dem kleinen Kai anlegte. Arthur Calgary ging den kurzen Pfad hinunter, der zur Anlegestelle führte, und stieg ins Boot. Der Fährmann war alt und grau; er und das Boot schienen fast miteinander verwachsen zu sein. Als sie abfuhren, blies ein kalter Wind vom Meer her.
    »Kühl heute Abend«, meinte der Fährmann.
    Calgary stimmte ihm zu und sagte, es sei viel kälter als gestern. Er glaubte, in den Augen des Fährmannes eine heimliche Neugier zu erkennen. Was wollte dieser Fremde? Die Saison war längst vorbei; außerdem war es schon spät, zu spät, um in dem kleinen Cafe drüben einzukehren. Der Fremde besaß kein Gepäck, also kam er nur auf einen kurzen Besuch. Calgary fragte sich selbst, warum er so spät am Tag gekommen sei. Sollte er unbewusst diesen Augenblick so lange wie möglich hinausgezögert haben? Die Überquerung des Rubikon… die Überquerung des Flusses… des Flusses. Er dachte plötzlich an jenen anderen Fluss, an die Themse.
    Noch gestern hatte er auf die Themse gestarrt – war es wirklich erst gestern gewesen? Er wandte sein Gesicht wieder dem Mann zu, der ihm gegenübersaß und ihn mit forschenden Augen betrachtete. Eine deutliche Frage lag in diesen Augen.
    Man müsste es lernen, seine Gedanken besser zu verbergen, dachte er.
    Es war eine höchst unangenehme Angelegenheit, aber er musste seine Pflicht tun; danach erst durfte er versuchen, das Ganze zu vergessen.
    Er entsann sich stirnrunzelnd der gestrigen Unterhaltung, und er hörte wieder die sympathische, ruhige Stimme…
    »Sind Sie wirklich fest entschlossen zu diesem Schritt, Dr. Calgary?«
    Er hatte ärgerlich geantwortet:
    »Es bleibt mir doch nichts anderes übrig, sehen Sie das denn nicht ein? Wie könnte ich mich davor drücken?«
    Die Antwort, die er erhielt, erstaunte ihn.
    »Man muss die Dinge von allen Seiten betrachten.«
    »Vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus gesehen, kann es doch wohl nur einen Weg geben!«, erwiderte er erregt. Versuchte der andere etwa, die Angelegenheit zu vertuschen?
    »Allerdings, aber die Sache ist verwickelter, als Sie glauben; es handelt sich um mehr als um Gerechtigkeit.«
    »Da bin ich anderer Meinung. Man muss schließlich an die Familie denken!«
    Die Antwort war sehr rasch gekommen: »Eben daran dachte ich – an die Familie.«
    Dr. Calgary konnte ihn beim besten Willen nicht verstehen; der andere fuhr fort: »Sie müssen natürlich das tun, was Sie für gut und richtig halten, Dr. Calgary.«
    Das Boot lief auf Sand – er hatte den Rubikon überquert.
    »Das macht sechs Pence, oder wollen Sie auch zurück?«, sagte der Fährmann.
    »Nein, danke; keine Rückfahrt«, erwiderte Calgary.
    Er bezahlte und fragte:
    »Kennen Sie das Haus Sonneneck?«
    Jetzt betrachtete der
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