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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Autoren: Luchterhand
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Basel Juni 2011
    Mit einem Mal ein blauer Himmel über der Stadt, dünne Nebelschwaden ziehen zwischen den Bäumen den Fluss entlang, unwirklich die Schwere der letzten Tage, die ich jetzt kaum noch wahrnehme, so sehr beruhigt mich die Wärme der Sonnenstrahlen. Im grünlich blinkenden Wellentreiben des Flusses bricht sich das milde Licht, dessen Widerschein funkelnd bis in die Tiefen meiner Augäpfel dringt. Ich höre das Geplätscher der sich am Bug der Boote brechenden Strömung des Rheins, hebe meinen Kopf, lege ihn zurück auf die Stütze des Rollstuhls und schließe die Lider. In zwei Stunden werde ich im Zug nach Frankfurt sitzen. Sieben Uhr, die Glocke des Münsters beginnt zu schlagen, keiner hat bemerkt, wie ich das Haus verlassen habe. Ich wollte Helen nicht begegnen, die sonst als Erste der Pflegerinnen auf ihrem Fahrrad die Einfahrt hereinkommt, zu meinem Fenster sieht und winkt. Die anderen Angestellten kommen gewöhnlich etwas später, sie verteilen sich nach und nach im Speisesaal, der Küche und den Zimmern und füllen das Haus mit Geräuschen, die den Ablauf des Alltags der alten Menschen begleiten. Viele stammen von weit her, haben dunkle Haut und einen brüchigen Akzent und scheinen es nicht als Last zu empfinden, mit Menschen, die ihre Großeltern sein könnten, den Tag zu verbringen. Ich bewohne eine der Zellen, wie ich die kleinen Wohneinheiten nenne. Es gibt kaum Platz, um die Möbel, die ich mitgenommen habe, in den Ecken unterzubringen, denn viele freie Flächen gibt es nicht, nur eine lange Wand für das Bett und die für den Schrank. Die dritte Seite ist dominiert durch ein großes Fenster mit Aussicht in den Garten, wo der Kastanienbaum nach einem langen Winter und einem nassen Frühling in den letzten Wochen seine hellgrünen Blätter entfaltet hat. Oft sind die Wohnzellen überladen, verstellt, und ich wundere mich manchmal darüber, wie meine Mitbewohner das eigene Nest gestalten, das sie oft tagelang nicht verlassen können, wenn draußen der Schnee in feuchten Flocken vom Himmel fällt und meine Nachbarin Käthe nicht mehr aus dem Bett mag oder Paul von seinen Gelenksschmerzen wie gelähmt ist. Ich kenne diese grauen Stunden, die es trotz der dunklen Gedanken zu überwinden gilt. Ich muss mir dann vor dem Spiegel Mut zusprechen oder mich ermahnen, wenn ich meine unordentliche Frisur bemerke oder die verknitterte Bluse, die ich nicht gebügelt habe in der Überzeugung, ich würde mein Zimmer an diesem Tag nicht verlassen. Noch immer lege ich Wert darauf, meine Wäsche selbst zu waschen, und darauf, das Mittagessen in der kleinen Kochnische für mich zuzubereiten, denn es graut mir davor, von anderen abhängig zu sein. Die Trägheit des Alters hat längst begonnen. Ich bemerke sie vermehrt seit Alexanders Tod, weil jede Aktivität aus mir selbst kommen muss. Ich will nicht abgefüttert werden mit einem beliebigen Programm, das für die Insassen hier zusammengestellt wird. Die Heimleitung veranstaltet für uns eine Nationalfeier, ein Sommernachtsfest oder ein Adventssingen, doch spätestens um fünf Uhr abends werden die Tische im Speisesaal wieder in die übliche Ordnung gebracht, damit das Essen rechtzeitig serviert werden kann und wir Alten bis um sieben in unseren Zimmern verschwinden können, zurückgeworfen in unsere eigene Nacht.
    Seit einem Jahr wohne ich hier in dieser Altenklause, die so übel nicht ist, wie ich zunächst angenommen habe, es gibt Schlimmeres. Aber es ist anders hier als im »Grünen Haus«, das von uns so genannt wurde, weil es von oben bis unten mit Efeu bewachsen war. Das »Wir« steht für Alexander und seine Freunde, mit denen ich vor mehr als zwanzig Jahren das desolate Gebäude in einem Vorort der Stadt gekauft und umgebaut habe, als Domizil für die Jahre, wenn wir wegen zunehmender Gebrechlichkeit nicht mehr alleine würden wohnen können. Es war ein großes Projekt, auf das wir uns eingelassen hatten, und außer ein paar guten Ideen und Zeit für die Organisation, die ich aufbrachte, um die Handwerker zu koordinieren, hatte ich nicht viel beizusteuern gehabt. Meine Rente war klein und einen Teil des Ersparten hatte ich Lena, meiner Tochter, und ihrem Mann Phillip für den Hauskauf in London übergeben.
    Paul und ich sind nun übrig geblieben. Die Bewohner des »Grünen Hauses« sind tot oder zu ihren Kindern gezogen. Alexander, mein zweiter Mann, hat vor drei Jahren einen Schlaganfall nicht überlebt. Vielleicht ist es gut so, denn er konnte nicht
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