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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus
Autoren: Anchee Min
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1 . Teil
    1 . Kapitel
    Z
uerst sollte ich Unkraut heißen, doch dann wurde ich Weide genannt. NaiNai, meine Großmutter, hatte auf Unkraut beharrt. Sie glaubte, wenn mein Leben schon ganz unten anfinge, könnten die Götter mich nicht noch tiefer fallen lassen. Papa war anderer Meinung. »Männer wollen Blumen heiraten, kein Unkraut.« Am Ende einigten sie sich auf Weide, denn eine Weide war »einfühlsam genug, um zu weinen, und robust genug, um als Gartengerät zu dienen«. Ich habe mich immer gefragt, was meine Mutter dazu gesagt hätte, würde sie noch leben.
    Was ihren Tod betrifft, hat Papa mich angelogen. Er und NaiNai erzählten mir, sie wäre bei einer Geburt gestorben. Aber vom Klatsch der Nachbarn wusste ich schon, dass das nicht stimmte. Papa hatte meine Mutter an die »Frauenlosen« im Ort »verliehen«, um seine Schulden abzubezahlen. Einer der Männer hatte Mutter geschwängert. Da war ich zwei Jahre alt. Um den »Bastardsamen« loszuwerden, hatte Papa von einem Kräuterheiler magisches Wurzelpulver gekauft und mit Tee vermischt, den Mutter dann trank. Sie starb zusammen mit dem Samen, was Papa das Herz brach. Er wollte bloß den Fötus töten und nicht seine Frau. Um sich eine neue Frau zu kaufen, hatte er kein Geld. Papa war wütend auf den Kräuterheiler, konnte aber nichts tun, denn der hatte ihn wegen des Giftes gewarnt.
    NaiNai fürchtete, die Götter würden sie für den Tod meiner Mutter bestrafen, und hatte Angst, dass sie im nächsten Leben als kranker Vogel und ihr Sohn als Hund ohne Beine wiedergeboren würde. Um eine mildere Strafe zu erbitten, verbrannte sie Räucherstäbchen. Als ihr das Geld dafür ausging, begann sie zu stehlen, wobei sie mich auf Märkte, Friedhöfe und in Tempel mitnahm. Wir warteten bis zum Einbruch der Dunkelheit, dann schlich NaiNai wie auf leisen Pfoten um Teiche herum, verschwand in Korridoren, Bambushainen oder hinter Hügeln. Im hellen Schein des Mondes reckte sie den langen Hals, ihr Kopf wurde schmaler und ihre Wangenknochen kantiger. Ihre schrägen Augen leuchteten, wenn sie den Blick über die Tempel schweifen ließ. Sie erschien und verschwand wie ein Geist. Doch eines Nachts war es vorbei damit. Sie brach zusammen. Ich wusste schon, dass sie krank war, denn sie hatte ganze Haarbüschel verloren und einen fauligen Atem. »Hol deinen Vater«, befahl sie. »Sag ihm, es geht mit mir zu Ende.«
    Papa war ein schöner Mann Anfang dreißig. Mit seiner quadratischen Stirn und dem breiten Kinn besaß er »das Aussehen eines alten Königs« oder »die ausgewogene Kraft von Himmel und Erde«, wie ein Wahrsager es ausdrücken würde. Er hatte die sanftmütigen Augen eines Schafes, eine Knollennase, die wie ein kleiner Hügel in seinem Gesicht saß, und einen Mund, der stets zu lachen bereit war. Sein dickes, lackschwarzes Haar kämmte und flocht er jeden Morgen feucht, damit der Zopf glatt und glänzend war. Papa ging aufrecht und erhobenen Hauptes. Seine Stimme – er sprach Mandarin mit kaiserlichem Akzent – trug er wie ein Kostüm. Aber wenn er die Geduld verlor, machte er Fehler. Dann waren die Leute schockiert, weil Mr Yee plötzlich so seltsam klang. NaiNais Ansicht, dass sein Ehrgeiz nutzlos sei, ignorierte Papa und träumte davon, eines Tages als Berater für den Gouverneur zu arbeiten. Er besuchte Teehäuser, wo er beim Vortragen klassischer chinesischer Gedichte sein Talent zur Schau stellte. »Ich muss meinen Geist wach halten und meine literarischen Fähigkeiten pflegen«, sagte er oft zu mir. So wie Papa sich gab, hätte niemand geglaubt, dass er als Tagelöhner arbeitete.
    Wir lebten in Chinkiang, einer kleinen Stadt südlich des Jangtse in der Provinz Jiangsu, weit weg von der Hauptstadt Peking. Ursprünglich stammte unsere Familie aus der Provinz Anhui, einer rauen Gegend, in der man nur durch schwere körperliche Arbeit überleben konnte. Dort hatten wir über viele Generationen den dürren, unfruchtbaren Boden bearbeitet und gegen Trockenheit, Hochwasser, Heuschrecken, Räuber und Geldeintreiber gekämpft. NaiNai prahlte damit, der Familie Yee »Glück« gebracht zu haben. Mein Großvater hatte sie gekauft, als er vierzig war. Dass der Handel in einem Freudenhaus stattfand, durfte niemand erwähnen. In ihren besten Jahren war NaiNai schlank und hatte einen Schwanenhals und Fuchsaugen. Sie schminkte sich jeden Tag und frisierte das Haar im Stil der Kaiserin. Es hieß, mit ihrem Lächeln hätte sie das Blut der Männer zum Kochen gebracht.
    Als
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