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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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M ein Vater pflegte zu sagen: Man muss ein Haus bauen können, bevor man es zeichnen kann. Er selbst hatte als junger Mann in Kopenhagen vor seinem Architekturstudium eine Maurerlehre absolviert. Dann zog er nach Norwegen, um zu heiraten und norwegische Häuser zu zeichnen. Jetzt standen wir in Majorstua, zusammen mit mindestens tausend anderen Zuschauern, die mit Ohrenschützern und großen Sonnenbrillen ausgestattet waren, als ginge es um eine lärmende Sonnenfinsternis, deren Zeuge wir werden sollten. Aber dem war nicht so. Wir wollten zusehen, wie das Philipsgebäude abgerissen wurde. Zu seiner Zeit war mein Vater an der Planung beteiligt gewesen, 1958, und es handelte sich dabei um das erste Gebäude in Norwegen mit einer sogenannten curtain façade, damit die fünfzehn Etagen leichter wirkten, fast schwerelos. Das Philipsgebäude wurde zum Wahrzeichen von Oslo, aber bald schlug die Stimmung um, wandte sich gegen das Gebäude. Im Laufe der Sechzigerjahre blieb es als hässliches und verhasstes Monument all dessen stehen, was elendig in dieser Welt war, Monopolkapitalismus, Vietnamkrieg, Materialismus, Ausbeutung, EWG , Imperialismus, denn war es etwa kein amerikanischer Imperialismus, wenn man einen Wolkenkratzer mitten in Oslo errichtete und sogar ein schützenswertes Kino abriss, um Platz für ihn zu schaffen? Norwegische Häuser sollten möglichst niedrig sein, zumindest alle gleich hoch. Und das Schlimmste war, dass ich in diesen Sturm der Entrüstung einstimmte. Ich ging aufs Gymnasium und wurde mitgerissen. Ich traute mich nicht zu sagen, dass mein Vater an der Planung beteiligt gewesen war. War ich es nicht, der am lautesten schrie, wenn es um das Philipsgebäude ging? Ich schämte mich für meinen Vater. Ich schäme mich immer noch, dass ich das tat. Jetzt sollte es also abgerissen werden, in einer sogenannten controlled demolition . Spezialisten auf diesem Gebiet waren aus den USA geholt worden, woher auch sonst, denn für diese Methode war in Norwegen bisher noch kein Bedarf gewesen. Das Philipsgebäude war also das erste seiner Art, sowohl bei seiner Entstehung als auch bei seinem Abriss. Am letzten Sonntag im April 2000, um 13.00 Uhr, war es so weit. Mutter wollte übrigens nicht dabei sein. Sie wartete zu Hause auf uns. Massenzusammenkünfte und große Versammlungen mochte sie nicht. Die wirkten bedrückend auf sie. Ein Wort, das sie oft benutzte. Genauso ging es ihr mit dem Gebirge, Hochebenen, Geröllhalden, die wirkten auch bedrückend auf sie. Was mich immer verwunderte. Was ich nie begriff. Wenn sie der Meinung war, dass öde Weiten und Ebenen im Gebirge bedrückend waren, dann müsste sie sich doch unter Menschen wohlfühlen oder umgekehrt, aber nicht beides. Wie wenig ich doch verstand. Mutter war dazwischen. Dort war ihr Platz. Jedenfalls war sie nicht mitgekommen. Nur Vater und ich. Es ging auf ein Uhr zu. Da fiel mir auf, dass Vater jünger als ich jetzt gewesen war, als er das Philipsgebäude gezeichnet hatte. Es war seine Geschichte. Er sagte nur wenig. Jemand sprach in einen Lautsprecher. Die eifrigsten unter den Zuschauern mussten von Wachleuten zurückgehalten werden. Ich hätte meinem Vater gern gesagt, dass ich stolz auf ihn war, stolz darauf, dass er das Gebäude mitgeplant hatte. Ich hätte mich gern dafür entschuldigt, dass ich hinter seinem Rücken schlecht darüber geredet hatte, es verhöhnt und lächerlich gemacht hatte. Aber ich kam nicht dazu, es zu sagen. Ich hörte nur eine heftige Explosion, und im nächsten Moment lag das Philipsgebäude im Staub da, in seinem eigenen Staub. Es ging so schnell, dass viele es gar nicht mitbekamen. Einige murmelten sogar etwas von wegen, man sollte es noch einmal machen, damit die Leute auch ordentlich dabei zusehen konnten. Das war doch nur ein Probelauf, dachte ich, was für ein befreiender Gedanke, das war doch nur ein Probelauf, und jetzt konnte das Philipsgebäude sich wieder aus dem Staub und dem Rauch erheben, Etage für Etage, und ich konnte meinem Vater endlich sagen, wie stolz ich auf ihn war. Während wir dort standen, hatte er keine Miene verzogen. Ich bilde mir ein, dass er vielleicht Folgendes dachte, jedenfalls dachte ich das: Um ein Haus zu zeichnen, muss man es auch abreißen können. Auf dem Heimweg wollte ich ihm den Magnolienbaum direkt unterhalb der Universität zeigen, der in voller Blüte stand, eine weiße, fast durchsichtige Krone, die alle Jahreszeiten im April in sich versammelte, denn in diesem Monat erblühte
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