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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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ausgetauscht. Sie hatte nicht einmal ihren Namen auf der Tür in der Stadt. Deshalb bekam ich den Eindruck, dass sie sich nach etwas sehnte. Es überwältigte mich. Wonach konnte sie sich sehnen? Hatte sie nicht alles? Ich glaube, sie sehnte sich nach etwas, das größer war als sie und das sie erfüllen, ausfüllen konnte. Sie sehnte sich nach ihrem eigenen Leben, das ein anderes Leben war. Wer hatte es ihr genommen? Vater? Oder noch schlimmer: ich?
    Ich hatte viele Namen. Wenn jemand mich rief, kam ich nicht.
    »Übrigens, da ist er«, sagte Mutter und zeigte nach oben.
    »Wer?«
    »Der Mond.«

3
    I ch wachte vom Regen auf, aber es hätten ebenso gut die Elstern sein können, die auf dem Dach hin und her trippelten, während die Hummeln ihre roten Zimmer öffneten und anfingen zu summen. Es gefiel mir, so dazuliegen, nur zu lauschen und zu träumen. Ich erinnere mich nicht an die Träume. Ich erinnere mich nur daran, dass die Zeit sich auflöste und verduftete, genau wie der dünne blaue Rauch von Mutters Ascot, die Gardinen und meine eigenen Gedankenbahnen. Ich wurde schwerelos. Es war wie schreiben, wie singen. Ich wurde befreit von allem, was mich an die Regelwerke band, an meine eigenen wie an die aller anderen. Aber da ich sowieso die Tropfen nicht zählen konnte – oder waren es die Schritte der Elstern –, was übrigens auch ganz gleich war, denn alles, was man zählt, wird zum Schluss das Gleiche, so blieb mir nichts anderes übrig, als doch aufzustehen, und da konnte ich natürlich nicht umhin, meinen rechten Fuß zu bemerken, der fast im rechten Winkel abstand, ganz nach außen stand er ab, und an schlechten Tagen scherte ich so weit aus, dass ich fast stolperte oder im Kreis ging, was ja ungefähr aufs Gleiche hinausläuft. Ich schaffte es aber schließlich, zur Schreibmaschine zu gehen, in der das Papier in einem Bogen nach vorn gekippt war, als wäre es im Laufe der Nacht eingeschlafen oder zumindest in Gedanken versunken. Das wäre noch was. Wenn der Papierbogen ein Gedicht geträumt hätte. Ich zog den Hebel zur Seite und weckte das Papier mit einem deutlichen Zeilenwechsel. Der Titel war jedenfalls kein Traum. Ich las ihn mir lautlos vor: Monduntergang . Jetzt fehlte nur noch das Gedicht.
    Ich zählte die Treppenstufen. Vierzehn Zeilen sollte das Gedicht haben. Wenn ich zwei auf einmal nahm, würde das Gedicht sieben Zeilen lang. Zählte ich jedoch die erste und die letzte Stufe nicht dazu, die eigentlich ja gar keine Stufen waren, sondern eher der Fußboden, dann musste das Gedicht zwölf Zeilen haben, eventuell sechs, wenn ich wie gesagt zwei Stufen auf einmal nahm. Diese Art von Dingen zu bedenken war wichtig. Sonst konnte alles schiefgehen. Mutter war nicht in der Küche. Ich schnappte mir eine Brotscheibe und aß sie auf dem Weg hinaus zum Plumpsklo, ein Name, den Mutter übrigens nicht gern hörte. Sie verlangte, dass es Abtritt hieß, gerne mit Betonung, oder einfach nur Klo, genau wie sie mich bat, in der Stadt vom Hof zu sprechen, nicht vom Hinterhof, wenn ich mit dem Mülleimer hinuntergehen sollte oder die Wäsche von der Wäscheleine holen musste. Ein Hinterhof war etwas, das sie im Ostteil der Stadt hatten. Im Hinterhof gab es Schatten, Ratten, Gestank, Pilze, Pöbel, Mopeds, Schnaps und ständig Schlägereien. Auf einem Hof dagegen schien die Sonne, und es roch frisch nach weißen Betttüchern, Kaffee und Blumen. Mutter war vielen Dingen gegenüber empfindlich, lauter Musik, grellen Farben, Unordnung und Unhöflichkeit, aber ganz besonders gegenüber der Sprache. Falsche Worte waren eine Bedrohung. Die Worte waren wichtiger als, wie soll ich es sagen, nicht als die Wirklichkeit, nicht als die Dinge oder Gegenstände, das wäre zu einfach, aber als das Bild, das wir von uns selbst schufen, der Eindruck, den wir vermittelten. Die Worte waren dem übergeordnet. Sie konnten entweder aufwerten oder abwerten. Deshalb galt es, die richtigen Worte zu finden, nicht Plumpsklo, nicht Hinterhof, nicht »Was«, wenn man etwas nicht gehört hatte oder nicht verstand, was gesagt worden war. Die Sprache war auch eine Maske, die bewahrt werden musste. Aber ganz gleich ob betont oder nicht, es war und blieb trotz allem ein Plumpsklo, egal, was sie sagte, mit einer ovalen Öffnung in dem schmalen Balken, durch die wir unsere Scheiße plumpsen ließen. Aber ich hätte zumindest gern anderes Papier gehabt als diese harte, glatte Rolle, die an einem Haken an der Innenseite der Tür hing und die immer
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