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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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nichts Besseres ein, und deshalb war meine Gesellschaft für mich die angenehmste. Ich kann es auch gleich beim Namen nennen. Ich hatte eine Art Scharte in mir, und ich wollte nicht, dass andere sie entdeckten. Schon damals nannte ich sie so, meine Scharten. Ich wusste nicht, warum ich sie hatte und woher sie kamen. Ich wusste nur, dass sie da waren, und dass ich deshalb anders war. Woraus dieses Anderssein bestand, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass es allein mein Problem war. Ich war irgendwo auf dem Weg zum Leben verunglückt. In diesen Scharten, die ich heute noch habe, denn die lassen sich nicht so einfach reparieren, sie lassen sich nicht ausbeulen wie eine Delle in einem Kotflügel, in ihnen hauste meine Einsamkeit, eine Einsamkeit, gegen die ich nichts hatte und über die ich mich deshalb auch nicht beklagte.
    Die Prinsen macht einen Bogen und legt an. Mir gefällt das weiche Dröhnen, das mir innerlich einen Stoß versetzt, wenn das Schiff auf den Fender trifft. Ich bin derjenige, der anlegt. Ich lege an der Zukunft an. Das Deck ist schon seit langem voll mit Frauen, die an Rucksäcken, Koffern, Körben, Luftmatratzen, Sonnenschirmen, Schwimmgürteln, Kinderwagen, Fahrrädern und ihren schreienden Kindern ziehen und zerren. Es sind die Mütter mit Kopftuch, die in Nesodden einmarschieren und tapfer an den Fronten der Ferien kämpfen. Der Mann am Drehkreuz, der Kapitän genannt wird, obwohl er nie das Schiff lenkt, der aber dennoch eine gebügelte Uniform mit goldenen Streifen auf beiden Jackenärmeln trägt, schiebt die Gangway an ihren Platz, eine steile, holprige Treppe, die hinunter in den Sommer führt, denn es ist Hochwasser, und das bedeutet Kielwassersog und Quallen. Doch der Kapitän ist nur zu gern bereit, die Damen auf ihrem Weg zu stützen, ja, wenn es sein muss, nimmt er sich auch zweier zugleich an. Diesen Job hätte ich übrigens gern, ich meine, die Fahrgäste zu zählen, nicht Mütter und Kinder zu geleiten, aber ich hätte sie gezählt, wenn sie das Schiff verlassen, nicht, wenn sie an Bord kommen. Der Erste, der an Land geht, das ist übrigens der Polizeibeamte, der kompakte Gordon Paulsen. Sicher war er in der Stadt, um nach Verbrechen zu suchen, denn auf Nesodden passiert nichts.
    Dann tragen wir das Gepäck ins Haus. Ich habe nicht viel dabei, nur hundert leere Seiten, einen kleinen Koffer, der fast nichts wiegt, und ein Fernglas, ich habe es von Vater bekommen. Architekten brauchen kein Fernglas, hat er gesagt. Es ist auch nicht sehr weit, nur um die Kurve, an den Briefkästen vorbei, weiter an den weißen Zäunen entlang, dann dort hinunter, hinein in das, was wir Dumpa nennen, die Mulde, in der sich der Kiesweg teilt. Ein Weg führt nach Hornstranda, der andere geht den steilen Hügel hinauf nach Kleiva, wie unser Haus heißt, ein großes, dunkel gebeiztes Holzgebäude mit zwei Stockwerken, einem Balkon in der Größe des Schlossbalkons, einem leeren Springbrunnen, dem Fahnenmast, Plumpsklo, Brunnen und einem Garten mit Apfelbäumen. Im letzten Moment drehe ich mich um und sehe, dass Iver Malt immer noch mit dem Rücken zu uns steht und seine Leine auswirft. Er hat keine Lust, sich umzudrehen. Er ist zufrieden mit sich selbst. Er angelt. Und wahrscheinlich hat er mich gar nicht bemerkt, warum sollte er auch? Ich grüße ihn ja nie, und er tut es auch nicht, mich grüßen, meine ich. Es war genau, wie Mutter sagte. Niemand grüßt Iver Malt, und ich bin einer von denen. Er wirft wieder seine Leine aus, obwohl die Prinsen gerade ablegt. Der Kapitän ruft ihm wie immer etwas zu, während er die nassen Trosse an Bord wirft und ein Wasserfächer im Licht funkelt, soll ich deine Leine abreißen, du Idiot? Jedes Mal ruft der Kapitän ihm das zu, und Iver kümmert sich wie üblich nicht darum. Was soll’s, denkt er sicher, ich habe genug Leine, noch mehr Dosen und noch viel mehr Blinker. Es ist, als könnte ich die Welt sehen, in die er eingeschlossen ist. Nicht, dass ich sehe, woraus diese Welt besteht, ich bin ja kein Hellseher, nur ziemlich scharfsichtig, aber ich sehe, dass er ganz woanders ist. Ich bin empfindsam für derartige Dinge. Und da kommt mir ein Gedanke, dass wir uns nämlich in gewisser Weise ähneln. Denn auch ich bin ganz woanders in meiner eigenen Welt. Also nicke ich ihm zu, nur Mutter zuliebe oder mir zuliebe, oder um einfach gemein zu sein, ist ja eigentlich egal, Iver dreht mir ja sowieso den Rücken zu, nicht wahr?

2
    I ch öffnete den Koffer, der gerade groß
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