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Am Helllichten Tag

Am Helllichten Tag

Titel: Am Helllichten Tag
Autoren: Simone van Der Vlugt
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Prolog
    Er muss bewusstlos gewesen sein. Als er die Augen aufmacht, liegt er bäuchlings am Boden und hat einen Arm nach vorn gestreckt. Die ersten Sekunden spürt er nichts, doch als er vorsichtig den Kopf zur Seite dreht, lässt ihn ein stechender Schmerz erstarren. Plötzlich ist da auch noch ein Geruch wie nach Eisen, ein Geruch, den er bisher nur bei anderen wahrgenommen hat, aber nie bei sich selbst.
    Er versucht, den Schmerz zu ignorieren, und stemmt sich mühsam hoch. Kaum steht er, erfasst ihn ein Schwindel, gleichzeitig merkt er, dass ihm etwas den Hals hinabläuft.
    Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er sich in seinem Wohnzimmer befindet, auf dem hellen Teppich, der rostrote Flecken aufweist.
    Stöhnend fasst er sich an den Hinterkopf und betrachtet anschließend seine Hand. Sie ist voller Blut. Was, um Himmels willen, ist passiert?
    Langsam erinnert er sich wieder. Nathalie … Er hatte Streit mit Nathalie. Aber warum?
    Robbie … Genau, es war um das Kind gegangen. Das Babygeschrei, das ihm den letzten Nerv raubte, gellt ihm noch in den Ohren. Er war auf das Kind zugegangen und dann …
    Sein Blick bleibt an der Couch hängen, auf der Robbie gelegen hat.
    Jetzt ist er weg und Nathalie auch. Jedenfalls sind sie nicht im Wohnzimmer. Wahrscheinlich hat sie sich mit dem Kleinen im Schlafzimmer eingeschlossen, um sich vor seiner Wut in Sicherheit zu bringen.
    »Nathalie?«
    Er hält sich den Kopf und betritt den Flur.
    Keine Antwort.
    Langsam geht er die Treppe hinauf, schaut oben in alle Zimmer, findet aber niemanden.
    Durchs Schlafzimmerfenster sieht er, dass sein Auto nicht mehr im Hof steht. Der nagelneue Alfa Romeo, sein ganzer Stolz. Nathalie wird doch nicht etwa … Sein Puls rast.
    So schnell es die hämmernden Kopfschmerzen erlauben, geht er wieder nach unten und steuert sein Arbeitszimmer an. Dass Nathalie den Tresor geleert hat, kann er sich kaum vorstellen, doch als er den Raum betritt, werden seine Befürchtungen bestätigt. Die Tür des Wandtresors steht sperrangelweit offen. Er sieht mit einem Blick, dass er leer ist.
    Mitten im Zimmer bleibt er stehen. Zehn, zwanzig Sekunden lang fühlt er nichts, absolut gar nichts. Mit geschlossenen Augen lauscht er seinem Atem. Dann ist es mit seiner Beherr schung vorbei, die Halsschlagader beginnt zu pochen. Die Kopf schmerzen werden unerträglich, doch mit der Wunde hat das nichts zu tun. Etwas drückt von innen gegen seine Schädel decke, sucht nach einem Ausweg, den es nicht gibt.
    Eine namenlose Wut erfasst ihn. Er versetzt der halb offenen Tür seines Arbeitszimmers einen so heftigen Fußtritt, dass sie aus den Angeln fliegt, und wirft dann sämtliche Gegenstände, die er zu fassen bekommt, durch den Raum.
    Nachdem er seinem Zorn Luft gemacht hat, zieht er das Handy aus der Hosentasche, sucht im Adressbuch nach einer Nummer und drückt die Wahltaste.
    »Nico? Ich bin’s, Vincent.« Seine Stimme klingt barsch, aber da er am Telefon immer kurz angebunden ist, fällt Nico vermutlich nichts auf.
    »Vincent, was gibt’s?«
    »Du musst mir helfen. Ich hatte einen Unfall. Wahrscheinlich muss die Wunde genäht werden – ich blute nämlich wie ein Schwein und …«
    »Wie ist das passiert?«
    »Lass mich gefälligst ausreden, ja?«, sagt Vincent verär-gert. »Ich brauche dich. Wie gesagt, die Wunde muss genäht werden.«
    »Wo bist du jetzt?«
    »In Brabant.«
    »Wie bitte? Nicht in Amsterdam? Du kannst doch nicht erwarten, dass ich …«
    »Doch. Wenn du gleich losfährst, bist du in einer Stunde hier. Beeil dich.« Ohne die Antwort abzuwarten, beendet Vincent das Gespräch.
    Nico ist einer seiner ältesten Freunde. Sie kennen sich vom Gymnasium in Roermond, wo sie seinerzeit den Laden tüchtig aufgemischt haben. Einmal hatten sie im Büro des Rektors Feuer gelegt, weil dieser ihnen wegen Betrugs einen mehrtägigen Schulverweis erteilt hatte. Allein schon das Wort Betrug für eine solche Lappalie: Sie hatten lediglich die Lösungen für eine Klassenarbeit aus der Mappe eines Lehrers geklaut.
    Vincent war nach dem Vorfall endgültig von der Schule geflogen, weil er die Schuld auf sich genommen hatte. Nico konnte bleiben, machte sein Abitur und studierte danach Me dizin. Inzwischen ist er wohlbestallter Arzt am Amsterdamer Uni klinikum, und Vincent versäumt es nicht, ihn immer wieder daran zu erinnern, wem er seine Karriere zu verdanken hat.
    Ihm ist klar, dass Nico viel zu tun hat und nicht einfach so weg kann, aber das ist ihm egal: Soll er es eben
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