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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Leichtsinn, sie, die sonst jeden zweiten Tag die Fenster putzt und jeden Tag staubsaugt, sie, die immer Haltung bewahrt, koste es, was es wolle. Ich habe gesehen, wie sie in Ohnmacht gefallen ist, als wir Gäste hatten, aber erst, als die letzten endlich gegangen waren. Alles, was nicht gesehen wird, ist auch nicht geschehen. Alles, was nicht gesagt wird, gibt es nicht. Mutters perfekte Welt ist die unsichtbare. Kann auch sie diese Freiheit fühlen, die einen Raum nach dem anderen öffnet, in der alles möglich ist, eine Freiheit, die beinhaltet, dass ich gleichzeitig die Türen hinter mir schließen muss, eine nach der anderen, wenn ich nicht ratlos und verzweifelt stehen bleiben will, ohne je weiterzukommen? Kann sie meine Freiheit erleben? Das Kopftuch ist Mutters Zeichen. Es ist ihre Uniform, mit der sie sich in die Stammrolle der sommerlichen Armee einschreibt. So einfach ist das. Daheim trägt sie nie ein Kopftuch. Auf dem Land, wie wir es nennen, obwohl wir das Rathaus vom Balkon aus sehen können, da nimmt sie sich die Freiheit. Mutters Freiheit ist es, zumindest bilde ich mir das ein, sich Freiheiten zu nehmen. Mutters Freiheit ist stückweise und geteilt. Sie kommt ganz plötzlich. Sie ergreift sie, wenn sich die Gelegenheit bietet. Freiheit ist auch nur eine Gelegenheit von vielen. So denke ich heute. Damals hätte ich nicht so denken können. Aber die Eiswaffel ist wie immer bereits weich und zäh. Das mag ich. Ich mag es, wenn es wie immer ist. Überraschungen sind nicht mein Ding. Darum sollen sich die anderen kümmern. Deshalb ist dieses unglaubliche Glück, diese Freiheit, von der ich nicht weiß, was ich mit ihr machen soll, auch bedrohlich. Ich hoffe, Mutter merkt nicht, dass ich gerade kurz davor war loszuweinen. Sicherheitshalber schaue ich in die andere Richtung, auf den Bunnefjord, der immer im Schatten liegt, ganz gleich, wie viel Sonne es gibt. Mutter gibt mir ein Taschentuch. Nicht, um die Tränen, die noch nicht gekommen sind, wegzuwischen, sondern für das Eis, das wie weißer, zäher Leim zwischen den Fingern herunterläuft und sie zusammenklebt. Ich werfe den letzten Rest der Waffel den Möwen zu, die mit breiten Flügeln und gelbem, gellenden Schrei auf mich herabstürzen. Wir nähern uns dem Anleger von Tangen. Dort steht wie immer Iver Malt und wirft mit der Dose. Er hat keine Angel, deshalb hat er die Leine um eine Blechdose gewickelt, drinnen einen Griff festgeschraubt, und da hast du seine Snurrwade. Ich habe mich oft gefragt, ob der Begriff »die Dose auswerfen« von Iver Malt stammt. Könnte gut sein. Er trägt eine riesige, ziemlich dreckige kurze Hose, ein Unterhemd und eine Schirmmütze von der Essotankstelle oben beim Einkaufszentrum, bei der sein Vater arbeitet, wenn er nüchtern ist, und an den Füßen hat er nichts. Iver Malt geht immer barfuß, zumindest den ganzen Sommer über. Was er den Rest des Jahres macht, davon habe ich keine Ahnung, aber es würde mich nicht wundern, wenn er auch dann keine Schuhe trägt. Er ist nämlich ein fester Einwohner. Er gehört nicht zu den Feriengästen. Er fährt nirgends hin. Er bleibt. Er wohnt in einer der Baracken, die draußen auf Signalen noch von den Deutschen übrig geblieben sind, gleich hinter dem Anleger. Wir sind wahrscheinlich gleich alt. Das ist alles, was ich von ihm weiß. Aber es kursieren viele Gerüchte über die Familie Malt, dass der Vater nie nüchtern ist, dass sie einen bissigen Hund haben, der nicht bellen kann, dass seine Mutter ein Deutschenflittchen ist und noch einen Sohn hat, der also Ivers Halbbruder ist und der ihr gleich nach der Geburt weggenommen und in ein Heim gesteckt wurde, weil er geistig noch weiter zurückgeblieben und langsamer im Kopf ist als die Mutter, die mit Deutschen gevögelt und einen unerwünschten Bastard gekriegt hat. Einige gingen sogar so weit, sie als Hure zu bezeichnen, und nicht nur das, sondern als Landesverräterhure. Ungefähr so lauteten die Gerüchte über die Familie Malt von Signalen, und die meisten glaubten sie.
    »Sag Iver Malt Hallo«, sagt Mutter.
    »Wieso denn?«
    »Weil ihm sonst keiner Hallo sagt, Chris.«
    Sagte Mutter das nur, weil es auch nicht viele gab, die mir Hallo sagten? Sollten wir uns sozusagen zusammentun? Ehrlich gesagt, es stimmte, ich hatte nicht viele Freunde, wenn überhaupt einen. Aber das störte mich nicht. Ich meine damit nicht, dass ich mich besonders wohl nur mit mir allein fühlte, dass es amüsant war, so für sich zu sein, aber mir fiel
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