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Schussfahrt

Schussfahrt

Titel: Schussfahrt
Autoren: N Förg
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1.
    »Wir sind doch hier
nicht in Disneyland! ›Interaktives Mountainbike-Downhill-Race am Nebelhorn in
einem Event Castle‹, ich glaube es nicht! Die sollten sich lieber mal live
bewegen und ihren Gehirnen echten Sauerstoff zuführen«, grummelte Jo vor sich
hin. »Am End’ haben wir computeranimierte Sennerinnen, die auf Knopfdruck ein
Allgäuer Liedchen trällern und dabei strippen, oder was sagst du dazu, Falco?«
    Jos sechsjähriger
Fjordwallach Falco hatte wie immer mit freundlich nach hinten geklappten Ohren
zugehört, ab und an zustimmend geprustet und ansonsten die Unaufmerksamkeit
seiner Reiterin dazu genutzt, Tannenzweige vom Baum zu zupfen. Selbst ein
dicker, kurzer Norwegerhals erreicht giraffenartige Länge, wenn es ums Essen
geht. Wieder schnappte er zu, und eine Ladung Schnee rieselte in Jos
Halsausschnitt.
    »Rübennase!«,
schimpfte Jo und hob drohend ein Ende des Zügels, was Falco mit einem Ohrklapp
nach rechts quittierte, um sofort den nächsten Ast zu erhaschen. Jo gab auf,
wie fast immer. »In deiner Erziehung bin ich definitiv gescheitert. Ein
Psychologe würde mir wahrscheinlich sagen, ich übertrage meinen
Freiheitsbegriff auf die Kreatur. Freizeit ist Freiheit – auch für so ein Vieh
wie dich.«
    Falco waren solche
tiefschürfenden Betrachtungen offenbar egal. Während er hurtig durch den Schnee
trabte, gelang es dem Norweger immer wieder, Tannenzweige zu pflücken. Der
Naturlehrpfad von der Gunzesrieder Säge herauf war im Winter eigentlich
gesperrt, aber an einem Montagvormittag, über dem eine archaische Stille lag,
kümmerte das niemanden. Kein Mensch weit und breit, und selbst auf dem
Ostertalweg war der Schneepflug noch nicht gefahren. Jo lenkte nach rechts, um
im Hohlweg zur Geißrücken Alpe etwas an Höhe zu gewinnen – sie liebte den Blick
auf den Stuiben und Buralpkopf auf der gegenüberliegenden Seite des Tals. Das
winterliche Licht zauberte der Natur sanfte Konturen, ein watteweiches
Winterwunderland. Nach einer klirrend kalten Nacht übernahm die Sonne das
Zepter. Der Frühling ließ sich jetzt, Anfang März, bereits erahnen.
    Falco hatte etwas
Neues, möglicherweise Essbares, entdeckt, auf das er jetzt zustrebte. Eine
bunte Jacke, die an einer Fichte hing. Er schnappte zu, und mit einem
Schneeschauer fiel der Anorak zu Boden.
    Jo wollte wegen der
neuerlichen Dusche gerade fluchen, als ihr der Satz in der Kehle stecken blieb.
Falco riss den Kopf hoch, seine Nüstern waren weit aufgebläht. Dann erstarrten
beide zu einer Art Reiterstandbild.
    Im Schnee saß ein
Mann, friedlich an einen Baum gelehnt, was bei der Kälte ungewöhnlich genug
war. Weit verblüffender fand Jo jedoch die Tatsache, dass er keine Schuhe,
sondern nur dicke gelbe Socken trug. Das eigentlich Irritierende aber war das
Loch in seinem Kopf: mitten auf der Stirn. Ein rotes Rinnsal war zur Nase
gelaufen, hatte sich dort geteilt und war über beide Wangen geronnen; das eine
Blutbächlein war weiter bis zum Kragen vorgedrungen, das andere im Mundwinkel
versiegt.
    Das alles
registrierte Jo eher interessiert als panisch. Sie hätte wohl noch lange so auf
den Mann gestarrt, aber Falco machte einen jähen Satz zur Seite. Mechanisch
klopfte sie seinen Hals, so wie sie es immer tat, wenn das Pony wegen eines
Traktors oder einer übermütig über eine Koppel buckelnden Kuh erschrak. Das
hier war allerdings weder ein Traktor noch eine Kuh! Das war ein Toter!
    Jetzt wagte Jo es
nicht mehr, hinzusehen. Mit zitternden Fingern suchte sie nach dem Handy in der
Innentasche ihrer Fleecejacke.
    »Mist, kein Netz,
verfluchte Telekom«, stöhnte sie. Sie wendete Falco vorsichtig, trabte an und
wurde plötzlich von einem wilden Fluchtreflex erfasst. Sie hieb dem
Fjordwallach die Hacken in die Seite und galoppierte den verschneiten Weg
bergab.
    Jo riss an den
Zügeln, und Falco rutschte mit weggeknickter Hinterhand vor die Tür des
Anwander Hofs am Ortsrand von Gunzesried.
    Der Anwander Bauer
stand auf eine Schneeschaufel gestützt und lächelte gutmütig. »Dua hofele, Frau
Doktr, pressiert’s so arg?«
    Jo schaute ihn an,
als würde sie sein Gesicht zum ersten Mal sehen. Ein Gesicht, in das harte
Bergbauernarbeit ihre Furchen gezogen hatte, ein Gesicht, aus dem braune Augen
blickten, die viel jünger zu sein schienen als der zähe, kleine Mann.
Sekundenlang passierte nichts. Dann legte der Anwander die Schneeschaufel weg,
streckte die Arme aus und hob Jo fast vom Pferd. Sie sackte zu Boden und kam
nur langsam
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