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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus
Autoren: Anchee Min
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rief aus: »Wir leben auf dem schönsten Fleck Erde unter der Sonne.«
    Kopfschüttelnd sagte ich ihm, dass mir der Dämon im Bauch den Sinn für Schönheit aufgefressen hatte.
    Papa sah mich ungläubig an. »Was habe ich dich gelehrt?«
    Ich rollte die Augen und rezitierte: »Tugend verleiht uns Kraft und wird obsiegen.«
     
    Doch schließlich gab die Tugend auch Papa keine Kraft mehr. Die Dämonen in seinem Bauch gewannen die Oberhand – und er wurde beim Stehlen erwischt. Daraufhin wollten die Nachbarn nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dabei taugte Papa nicht einmal zum Dieb, denn er war zu ungeschickt. Mehr als einmal musste ich mit ansehen, wie er von den Leuten, die er bestohlen hatte, verprügelt und in die Abwasserrinne gestoßen wurde. Seinen Freunden wollte er weismachen, er sei »über einen Baumstumpf gestolpert«. Lachend fragten sie ihn: »War es derselbe wie letztes Mal?« Eines Tages kam Papa mit einem ausgekugelten Arm nach Hause. »Ich habe es nicht besser verdient«, verfluchte er sich selbst. »Man stiehlt einem Kind nichts aus dem Mund.«
    Mit acht Jahren war ich bereits eine erfahrene Diebin. Angefangen hatte es mit Räucherstäbchen für NaiNai. Papa kritisierte mich zwar, wusste aber, dass die Familie verhungern würde, wenn ich mit Stehlen aufhörte. Außerdem verkaufte er mein Diebesgut.
    Zuerst waren es kleine Dinge wie Gemüse, Obst, Vögel und junge Hunde. Dann verlegte ich mich auf Gartengeräte. Sobald Papa meine Beute verkauft hatte, eilte er ins Wirtshaus. Dort trank er ganz langsam ein Glas Reiswein, Schluck für Schluck und die Augen geschlossen, als konzentriere er sich auf den Geschmack. Es dauerte nicht lange, und er begann mit geröteten Wangen sein Lieblingsgedicht zu rezitieren. Da er längst keine Freunde mehr hatte, phantasierte er sich einfach seine Zuhörerschaft.
    Der gewaltige Jangtse fließt hin zum Meer,
    kehrt nie zurück, wie die glorreichen Tage der Dynastie nie zurückkehren.
    Wann wird die Zeit für Helden wiederkommen?
    Doch Musik spielt weiter, schnell und triumphal,
    Reformen gescheitert, Reformer geköpft,
    das Land heimgesucht von ausländischen Truppen,
    Seine Majestät auf die Insel Yintai verbannt.
    Wo ist die Antwort der Götter?
    Beweine den gebildeten Mann,
    mit gebrochenem Herzen und verzweifelt …
    Eines Tages applaudierte der Mann am Tisch in der Ecke und stand auf, um Papa zu gratulieren. Für Chinesen war er groß wie ein Riese. Es war der amerikanische Missionar mit den braunen Haaren und blauen Augen. Er hatte allein dagesessen, ein dickes Buch und eine Tasse Tee vor sich auf dem Tisch. Lächelnd lobte er Papa für sein schönes Gedicht.
     
    Sein Name war Absalom Sydenstricker. Die Einheimischen nannten ihn den »verrückten Ausländer mit der Pflugnase und den Dämonenaugen«. Seit ich denken konnte, gehörte er zum festen Bild unserer Stadt. Er war nicht nur turmhoch, ihm wuchsen auch Haare wie Unkraut auf Unterarmen und Händen. Absalom trug das ganze Jahr über ein graues chinesisches Gewand. Alle wussten, dass der lange Zopf auf seinem Rücken unecht war. Seine Verkleidung wirkte lächerlich, doch das schien ihm nichts auszumachen. Die meiste Zeit lief er den Leuten auf der Straße hinterher, um mit ihnen zu reden. Er wollte uns dazu bringen, an seinen Gott zu glauben. Wir Kinder wurden angehalten, ihm aus dem Weg zu gehen und ihn nicht mit Worten wie »Verschwinden Sie« zu verletzen.
    Da auch Papa die Straßen durchstreifte, kannte er Absalom Sydenstricker gut. Er war zu dem Schluss gekommen, dass Absalom Verdienste sammelte, damit Gott ihm einen Platz im Himmel anbot, wenn er starb.
    »Warum sollte er sonst sein Zuhause verlassen, um unter Fremden zu leben?«, fragte Papa.
    Im Stillen hegte er allerdings den Verdacht, dass Absalom in seiner Heimat ein Verbrecher gewesen war.
    Eines Tages hörte Papa dem Fremden aus Neugier zu und lud ihn hinterher »zu weiteren Diskussionen« nach Hause ein. Absalom nahm die Einladung freudig an. Dass es bei uns schmutzig war, störte ihn nicht. Er setzte sich und schlug sein Buch auf. »Möchten Sie eine Geschichte aus der Bibel hören?«, fragte er.
    Doch an Geschichten war Papa nicht interessiert. Er wollte wissen, was für ein Gott Jesus war. »So wie er gefoltert und aufgespießt und an einen Mast genagelt wurde, muss er ein bedeutender Verbrecher gewesen sein. In China werden nur hochrangige Kriminelle wie der ehemalige Oberste Rat Su Shun so aufwendig öffentlich gefoltert.«
    Begeistert
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