Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas
Autoren: Jeanette Walls
Vom Netzwerk:
I
Eine Frau auf der Strasse
    Ich nestelte an meiner Perlenkette und fragte mich, ob ich nicht doch zu elegant für die Party angezogen war, als ich aus dem Taxifenster schaute und Mom sah, die gerade einen Mülleimer durchwühlte. Es war ein stürmischer Märzabend, und es dämmerte schon. Der Wind peitschte den Dampf, der aus den Kanaldeckeln aufstieg, und die Menschen hasteten mit hochgeklappten Mantelkrägen über die Bürgersteige. Ich steckte im Stau, zwei Häuserblocks von dem Restaurant entfernt, wo die Party stattfand, zu der ich eingeladen war.
    Mom stand höchstens vier Meter weg von mir. Zum Schutz gegen die Frühjahrskälte hatte sie sich Lumpen um die Schultern gewickelt, und sie inspizierte den Abfall, während ihr Hund, ein schwarzweißer Terriermischling, zu ihren Füßen spielte. Moms Bewegungen waren mir so vertraut -die Art, wie sie den Kopf schief legte und die Unterlippe vorschob, wenn sie irgendetwas aus dem Mülleimer gefischt hatte und auf seinen Wert hin untersuchte, die Art, wie ihre Augen vor kindlicher Freude ganz groß wurden, wenn sie etwas gefunden hatte, das ihr gefiel. Ihr langes Haar hatte graue Strähnen und war ungekämmt und verfilzt, ihre Augen lagen tief in den Höhlen, aber sie erinnerte mich noch immer an die Mom, die sie für mich als Kind gewesen war, die Kopfsprünge von Klippen machte, in der Wüste malte und laut Shakespeare las. Ihre Wangenknochen waren hoch und kräftig, doch die Haut war von all den Wintern und Sommern, die sie ungeschützt den Elementen ausgesetzt gewesen war, ausgedörrt und gerötet. Für die Menschen, die an ihr vorbeigingen, sah sie wahrscheinlich genauso aus wie die unzähligen Obdachlosen, die durch die Straßen von New York streiften.
    Es war Monate her, dass ich Mom gesehen hatte, und als sie aufblickte, überkam mich Panik, die Furcht, dass sie mich entdecken und meinen Namen rufen würde und dass jemand, der zu derselben Party unterwegs war, uns zusammen sehen könnte, dass Mom sich vorstellen würde und mein Geheimnis kein Geheimnis mehr wäre. Ich rutschte auf dem Sitz nach unten und sagte dem Fahrer, er solle wenden und mich zurück zur Park Avenue bringen.
    Das Taxi hielt vor dem Haus, in dem ich wohnte, der Portier öffnete mir die Tür, der Fahrstuhlführer brachte mich hinauf zu meine* Etage. Mein Mann arbeitete noch, wie fast jeden Abend, und die leere Wohnung war still, bis auf das Klackern meiner Absätze auf dem glänzenden Parkettboden. Ich war noch immer aufgewühlt von der unerwarteten Begegnung mit meiner Mutter, von dem Anblick, wie sie munter den Mülleimer durchstöberte, und ich legte eine Vivaldi-CD auf, hoffte, dass mich die Musik beruhigen würde.
    Ich ließ den Blick durch die Wohnung wandern. Über die bronze- und silberfarbenen Vasen aus der Jahrhundertwende und die alten Bücher mit abgegriffenem Ledereinband, die ich auf Flohmärkten erstanden hatte. Über die alten Landkarten von Georgia, die ich gerahmt hatte, die persischen Teppiche und den wuchtigen Ledersessel, in den ich mich abends so gern fallen ließ. Ich hatte versucht, mir hier ein Zuhause zu schaffen, hatte versucht, die Wohnung so zu gestalten, wie der Mensch, der ich sein wollte, sie gern hätte. Aber es gelang mir nicht, mich hier wohl zu fühlen, ohne mir Gedanken um Mom und Dad zu machen, die auf irgendeinem U-Bahn-Schachtgitter kauerten. Ich sorgte mich um sie, aber sie waren mir auch peinlich, und außerdem schämte ich mich dafür, dass ich Perlen trug und auf der Park Avenue wohnte, während meine Eltern damit beschäftigt waren, irgendwo ein warmes Plätzchen und etwas zu essen zu finden.
    Aber was sollte ich machen? Ich hatte schon zahllose Male versucht, ihnen unter die Arme zu greifen, aber Dad beharrte stets darauf, dass sie nichts brauchten, und Mom bat immer nur um irgendwelche albernen Kleinigkeiten wie einen Parfümzerstäuber oder ein Fitnessstudio-Abo. Beide beteuerten, dass sie genauso lebten, wie sie leben wollten.
    Doch nachdem ich im Taxi den Kopf eingezogen hatte, damit Mom mich nicht sah, empfand ich so einen Abscheu vor mir selbst - meinen Antiquitäten, meinen Kleidern und meiner Wohnung -, dass ich irgendwas tun musste. Ich rief eine Freundin von Mom an und hinterließ eine Nachricht für sie. Das war unser System, wie wir in Kontakt blieben. Es dauerte immer ein paar Tage, bis Mom zurückrief, und die Woche war fast um, als sie sich meldete. Sie klang wie immer gut gelaunt und locker, als hätten wir uns erst tags zuvor zum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher