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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus
Autoren: Anchee Min
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Ah-ma, die chinesische Hausangestellte, war schon lange bei der Familie und kümmerte sich auch um die Töchter.
    »Pearl und Grace wollen so gern wie chinesische Mädchen aussehen«, erzählte Wang Ah-ma ihren strickenden Freundinnen. Sie saßen vor dem Haus in der Sonne. Wang Ah-ma strickte neue Mützen für Pearl und Grace, unter denen sie ihre blonden Haare versteckten, um den Chinesinnen zu ähneln. Sie musste sich beeilen, weil die alten Mützen der Mädchen schon ganz verschlissen waren. »Arme Pearl, jeden Tag fragt sie mich, wie sie es anstellen könnte, dass ihr schwarze Haare wachsen.«
    Die Frauen lachten. »Was hast du ihr gesagt?«
    »Dass sie schwarzen Sesamsamen essen soll, was sie wie eine Besessene getan hat. Ihre Mutter dachte, sie isst Ameisen.«
    Im Frühjahr vor der Aussaat kamen die Bauern in die Stadt, um sich für den Rest des Jahres mit allem Nötigen einzudecken. Während die Männer Dünger kauften und Arbeitsgeräte reparieren oder schleifen ließen, nahmen die Frauen den Viehbestand in Augenschein. Ich wanderte zwischen den Essensständen und Gemischtwarenläden umher, immer auf der Suche nach einer Gelegenheit zum Stehlen. Seit Wochen hatte ich keine richtige Mahlzeit mehr gehabt.
    Papa hatte fast alle unsere Möbel verpfändet. Der Tisch und die Sitzbank und mein Bett waren weg. Ich schlief jetzt auf einer Strohmatte auf dem Erdboden. Mitten in der Nacht krabbelten Tausendfüßler über mein Gesicht. NaiNai hatte eine Infektion, die einfach nicht heilen wollte. Sie schaffte es kaum noch aus dem einen Bett, das wir noch besaßen. Papa verbrachte immer mehr Zeit mit Absalom, weil er von ihm angestellt werden wollte.
    »Absalom braucht meine Hilfe«, sagte Papa jeden Tag. »Er weiß nicht, wie man Geschichten erzählt. Die Leute schlafen ein. Ich sollte seine Bibelgeschichten erzählen, ich kann Absaloms Geschäft zum Erfolg verhelfen.«
    Doch Absalom wollte nur Papas Seele retten, sonst nichts.
    Eines Nachts hörte ich Papa leise zu NaiNai sagen: »Die Mitgift wäre stattlich.« Ich brauchte eine Weile, um den Sinn seiner Worte zu verstehen. Einer seiner Freunde hatte angeboten, mich als seine Konkubine zu kaufen.
    »Weide verkaufst du nicht!« NaiNai klopfte sich mit der Faust auf die Brust.
    »Man braucht Geld, um Geld zu verdienen«, erwiderte Papa. »Und du brauchst Geld für Medikamente. Der Arzt sagt, dein Zustand wird immer schlechter …«
    »Solange ich noch atme, verschwende keinen Gedanken daran!«, stieß NaiNai mühsam hervor.
    Und wenn NaiNai starb? Ich bekam es mit der Angst zu tun, und zum ersten Mal freute ich mich auf Sonntag. Dann konnte ich in die Kirche gehen, wo Absalom vom Himmel erzählte und Carie Essen verteilte. Papa und NaiNai wären gern mitgegangen, aber sie schämten sich, vor Ausländern ihre Verzweiflung zu zeigen.
     
    Absaloms Kirche war ein Zimmer mit Bänken und lehmfarbenen Wänden. Er sagte, sein Gott sei ein bescheidener Gott, dem seine Anhänger wichtiger wären als das Aussehen seines Hauses. Außerdem sei er gerade dabei, Geld für eine richtige Kirche zu sammeln.
    Ich hätte ihm gern erzählt, dass die Leute hier weder an seinem Gott noch an seiner Kirche interessiert waren. Wir kamen wegen des Essens und warteten darauf, dass er mit der Predigt fertig wurde. Die mussten wir über uns ergehen lassen. Wenn es dann endlich so weit war, in die Hände zu klatschen und »Amen« zu sagen, jauchzte ich vor Freude.
    Nach dem Essen ging es uns gut. Wir sangen Lieder, um Absaloms Gott zu danken. Carie lehrte uns Hymnen und Oratorien. Das erste Lied, das sie uns vorsang, hieß »Amazing Grace«. Ihre kräftige Stimme überraschte uns alle. Der ganze Raum vibrierte, so tief war sie, wie ein chinesischer Gong. Der Klang erinnerte an einen Wasserfall im Frühjahr, der die Berge hinabrauschte. Mühelos schickte sie die Töne durch die Zimmerdecke, wobei ihr rundes, weiches Gesicht einen verklärten Ausdruck bekam.
    Ich verliebte mich in »Amazing Grace«. Das Lied berührte mich auf sonderbare Weise, denn auf einmal konnte ich mir meine Mutter vorstellen. Das war mir noch nie zuvor gelungen. Ich war mit chinesischen Opern groß geworden, doch erst dieses Lied brachte sie zu mir, lebhaft und klar. Mutter war schön wie eine chinesische Göttin, fast konnte ich ihren Duft riechen. Ihre sanften Augen leuchteten in dem ovalen Gesicht. Sie war klein, aber rundlich. »Komm, mein Kind«, hörte ich sie sagen. »Ich habe mich so danach gesehnt, dich zu
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