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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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nahm das Hörnchen in den Mund und kauerte sich auf allen vieren vor Karenin auf den Boden. Dann kroch er langsam auf ihn zu.
    Karenin sah ihn an, und ein Schimmer von Interesse schien in seinen Augen aufzublitzen, aber er erhob sich nicht.
    Tomas hielt sein Gesicht ganz dicht vor Karenins Schnauze.
    Ohne den Körper zu bewegen, nahm der Hund den Teil des Hörnchens, der Tomas aus dem Mund schaute. Dann ließ Tomas das Hörnchen los, um es Karenin zu geben.
    Immer noch auf allen vieren kroch Tomas rückwärts und fing an zu knurren. Er tat, als wollte er sich um das Hörnchen raufen. In diesem Moment antwortete der Hund seinem Herrn mit einem Knurren. Endlich! Darauf hatten sie gewartet! Karenin hatte Lust zu spielen! Karenin hatte Lust zu leben!
    Dieses Knurren war das Lächeln Karenins, und sie wollten dieses Lächeln so lange wie möglich andauern lassen. Deshalb näherte sich Tomas ihm wieder auf allen vieren und schnappte die Spitze des Hörnchens, das dem Hund aus der Schnauze schaute. Ihre Gesichter waren so dicht nebeneinander, daß Tomas den Hundeatem roch und die langen Haare, die um Karenins Schnauze wuchsen, seine Wange kitzelten.
    Der Hund knurrte noch einmal und schüttelte jäh seine Schnauze. Jeder hielt ein halbes Hörnchen zwischen den Zähnen. Und dann beging Karenin den alten Fehler. Er ließ seine Hälfte fallen und wollte das Stück aus dem Mund seines Herrn erhaschen. Wie immer hatte er vergessen, daß Tomas kein Hund war und Hände hatte. Tomas ließ das Hörnchen nicht los und hob das am dem Boden liegende Stück auf.
    »Tomas«, schrie Teresa, »du wirst ihm doch sein Hörnchen nicht wegnehmen!«
    Tomas ließ die beiden Hälften vor Karenin fallen, der die eine rasch verschlang und die andere demonstrativ lange im Maul hielt, um sich vor seinen Herren zu brüsten, daß er die Partie gewonnen hatte.
    Sie sahen ihn an und sagten sich wieder, daß Karenin lächelte, und daß er, solange er lächelte, noch einen Grund zu leben hatte, auch wenn er zum Tode verurteilt war.
    Am nächsten Tag schien sich sein Zustand zu bessern. Sie aßen zu Mittag. Das war der Moment, in dem beide eine Stunde für sich hatten und mit ihm spazierengingen. Er wußte das und lief normalerweise unruhig um sie herum. Als Teresa diesmal aber Halsband und Leine zur Hand nahm, sah er sie und Tomas nur lange an und regte sich nicht. Sie standen vor ihm und versuchten (seinetwegen und ihm zuliebe) fröhlich zu sein, um seine Laune zu heben. Erst nach einer Weile, als hätte er Mitleid mit ihnen, humpelte er auf drei Beinen auf sie zu und ließ sich das Halsband umlegen.
    »Teresa«, sagte Tomas, »ich weiß, du bist mit dem Fotoapparat verfeindet. Nimm ihn heute aber trotzdem mit!«
    Teresa gehorchte. Sie öffnete den Schrank, um den vergrabenen und vergessenen Apparat zu suchen, und Tomas fuhr fort: »Diese Fotografien werden uns einmal große Freude bereiten. Karenin war ein Stück unseres Lebens.«
    »Was heißt war?« sagte Teresa, als hätte sie eine Schlange gebissen. Der Apparat lag vor ihr auf dem Schrankboden, doch sie bückte sich nicht. »Ich nehme ihn nicht mit. Ich will nicht daran denken, daß es keinen Karenin mehr geben wird.
    Du sprichst schon in der Vergangenheit von ihm!«
    »Sei mir nicht böse«, sagte Tomas.
    »Ich bin nicht böse«, sagte Teresa sanft, »ich habe mich selbst schon mehrmals dabei ertappt, in der Vergangenheit an ihn zu denken. Wie oft habe ich mich selbst schon zurechtweisen müssen. Und gerade deshalb nehme ich den Apparat nicht mit.«
    Sie gingen auf dem Weg, ohne zu sprechen. Nicht zu sprechen war die einzige Möglichkeit, nicht in der Vergangenheit an Karenin zu denken. Sie ließen ihn nicht aus den Augen und waren immer bei ihm. Sie warteten auf sein Lächeln. Aber er lächelte nicht, er ging einfach neben ihnen her, immer auf drei Beinen.
    »Er tut es nur uns zuliebe«, sagte Teresa, »er wollte überhaupt nicht Spazierengehen. Er ist nur mitgekommen, um uns eine Freude zu machen.«
    Was sie sagte, klang zwar traurig, doch waren sie glücklich, ohne sich dessen bewußt zu sein. Glücklich waren sie nicht trotz der Trauer, sondern dank der Trauer. Sie hielten sich an den Händen und hatten beide dasselbe Bild vor Augen: einen hinkenden Hund, der zehn Jahre ihres Lebens verkörperte.
    Sie gingen noch ein Stück weiter. Dann blieb Karenin zu ihrer großen Enttäuschung stehen und drehte sich um. Sie mußten zurückkehren.
    Vielleicht noch am selben oder am nächsten Tag trat Teresa
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