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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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ihrem eigentlichen Ziel: an den Menschen.
    Man begann zu entlassen, zu verhaften, zu prozessieren. Die Tiere konnten endlich aufatmen.
    Teresa streichelt Karenins Kopf, der still auf ihrem Schoß ruht. Sie überlegt sich etwa folgendes: Es ist kein besonderes Verdienst, sich den Mitmenschen gegenüber korrekt zu benehmen. Teresa muß sich den Dorfbewohnern gegenüber tadellos verhalten, weil sie sonst auf dem Dorf nicht leben könnte. Und sogar Tomas gegenüber muß sie sich liebevoll verhalten, weil sie ihn braucht. Man wird niemals mit Sicherheit feststellen können, inwieweit unsere Beziehungen zu anderen Menschen das Resultat unserer Gefühle, unserer Liebe, unserer Unliebe, unserer Gutmütigkeit oder Bösartigkeit sind, und inwieweit sie durch das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Menschen festgelegt sind.
    Die wahre menschliche Güte kann sich in ihrer absoluten Reinheit und Freiheit nur denen gegenüber äußern, die keine Kraft darstellen. Die wahre moralische Prüfung der Menschheit, die elementarste Prüfung (die so tief im Innern verankert ist, daß sie sich unserem Blick entzieht) äußert sich in der Beziehung der Menschen zu denen, die ihnen ausgeliefert sind: zu den Tieren. Und gerade hier ist es zum grundlegenden Versagen des Menschen gekommen, zu einem so grundlegenden Versagen, daß  sich alle anderen aus ihm ableiten lassen.
    Ein Kalb hatte sich Teresa genähert, war stehengeblieben und schaute sie mit seinen großen braunen Augen lange an.
    Teresa kannte es. Sie nannte es Marketa. Sie hätte gern allen Kälbern einen Namen gegeben, aber das ging nicht. Es waren zu viele. Vor langer Zeit einmal, und gewiß noch vor vierzig Jahren, hatten alle Kühe dieses Dorfes einen Namen.
    (Und weil der Name ein Zeichen der Seele ist, kann ich sagen, daß sie eine hatten, Descartes zum Trotz.) Aber dann hat man aus den Dörfern große Genossenschaften gemacht, und seitdem müssen die Kühe ihr Leben auf ihren zwei Quadratmetern in einem Stall verbringen. Sie haben keine Namen mehr und sind »machinae animatae« geworden. Die Welt hat Descartes recht gegeben.
    Immer sehe ich Teresa vor mir, wie sie auf einem Baumstumpf sitzt, Karenins Kopf streichelt und an das Versagen der Menschheit denkt. Zugleich taucht ein anderes Bild auf: Nietzsche verläßt sein Hotel in Turin. Er sieht vor sich ein Pferd und einen Kutscher, der das Tier auspeitscht. Nietzsche geht auf das Pferd zu, schlingt ihm vor den Augen des Kutschers die Arme um den Hals und weint.
    Das war im Jahre 1889, und Nietzsche war damals auch schon den Menschen entfremdet. Anders gesagt: eben zu dem Zeitpunkt war seine Geisteskrankheit ausgebrochen.
    Aber gerade deswegen, scheint mir, hat seine Geste eine weitreichende Bedeutung. Nietzsche war gekommen, um bei dem Pferd für Descartes Abbitte zu leisten. Sein Wahn (sein Bruch mit der Menschheit also) beginnt in dem Moment, als er um ein Pferd weint.  Und das ist der Nietzsche, den ich mag, genauso wie ich
    Teresa mag, auf deren Knien der Kopf des todkranken Hundes ruht. Ich sehe die beiden nebeneinander: beide weichen von der Straße ab, auf der die Menschheit als »Herr und Besitzer der Natur« vorwärtsmarschiert.
    3.
    Karenin gebar zwei Hörnchen und eine Biene. Verdutzt schaute er auf seine wunderliche Nachkommenschaft. Die Hörnchen verhielten sich ruhig, die Biene aber torkelte benommen umher; dann flog sie in die Höhe und verschwand.
    Das war ein Traum, den Teresa träumte. Nach dem Aufwachen erzählte sie ihn Tomas, und beide fanden ihn irgendwie tröstlich: dieser Traum hatte Karenins Krankheit in eine Schwangerschaft verwandelt, und das Drama der Geburt hatte ein ebenso lächerliches wie rührendes Ergebnis: zwei Hörnchen und eine Biene.
    Wieder wurde sie von einer absurden Hoffnung erfüllt. Sie stand auf und zog sich an. Auch auf dem Dorf begann der Tag damit, daß sie in den Laden ging, um Milch, Brot und Hörnchen zu kaufen. Als sie aber an diesem Tag Karenin rief, damit er sie begleitete, hob er kaum den Kopf. Es war das erste Mal, daß er es ablehnte, an der Zeremonie teilzunehmen, auf der er früher immer bestanden hatte.
    Sie ging also ohne ihn. »Wo ist denn Karenin?« fragte die Verkäuferin, die schon ein Hörnchen für ihn bereithielt.
    Diesmal mußte Teresa es selbst in der Tasche nach  Hause tragen. Schon an der Tür zog sie es heraus und zeigte es ihm.
    Sie wollte, daß er es holte. Aber er blieb liegen und rührte sich nicht.
    Tomas sah, wie unglücklich Teresa war. Er
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