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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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sagt sie, ohne zu protestieren, wendet sich aber rasch von ihr ab und geht weiter. Sie fühlt sich allein gelassen mit ihrer Liebe zu einem Hund. Mit einem traurigen Lächeln sagt sie sich, daß sie diese Liebe mehr verheimlichen muß als eine Untreue. Man ist entrüstet über die Liebe zu einem Hund.
    Hätte die Nachbarin erfahren, daß sie Tomas untreu wäre, so hätte sie ihr zum Zeichen heimlichen Einverständnisses fröhlich auf den Rücken geklopft.
    Sie geht also weiter mit ihren Kälbchen, deren Flanken sich aneinanderreihen, und sagt sich, daß es sehr liebe Tiere sind. Ruhig, harmlos, manchmal kindlich übermütig: sie wirken wie dicke fünfzigjährige Damen, die so tun, als wären sie vierzehn. Nichts ist rührender als Kühe, die zusammen spielen. Teresa schaut ihnen voller Sympathie zu und sagt sich (dieser Gedanke kehrt schon seit zwei Jahren immer wieder), daß die Menschheit genauso von der Kuh schmarotzt, wie der Bandwurm vom Menschen: sie hat sich wie ein Blutegel an ihrem Euter festgesaugt. Der Mensch ist der Parasit der Kuh, so etwa würde der Nicht-Mensch in seiner Tierkunde den Menschen definieren.
    Wir können diese Definition als puren Scherz betrachten und nachsichtig darüber lächeln. Nimmt Teresa ihn jedoch ernst, so begibt sie sich auf eine schiefe Bahn: ihre Gedanken sind gefährlich und entfremden sie der Menschheit. Bereits in der Genesis hat Gott dem Menschen die Macht über die anderen Lebewesen anvertraut, doch kann man das auch so auffassen, daß er sie ihm nur leihweise anvertraut hat. Der Mensch ist nicht etwa Eigentümer, sondern lediglich Verwalter dieses Planeten, und er wird eines Tages für diese Verwaltung zur Rechenschaft gezogen werden. Descartes ist einen entscheidenden Schritt weitergegangen: er hat den Menschen zum »Herrn und Besitzer der Natur« erklärt. Und gewiß besteht ein tiefer Zusammenhang darin, daß ausgerechnet er es war, der den Tieren die Seele abgesprochen hat: Der Mensch ist der Besitzer und der Herr, das Tier hingegen, sagt Descartes, nur ein Automat, eine belebte Maschine, eine »machina animata«. Wenn ein Tier wehklagt, so ist dies kein Wehklagen, sondern das Quietschen eines schlecht funktionierenden Mechanismus. Wenn ein Wagenrad quietscht, so bedeutet das nicht, daß der Leiterwagen leidet, sondern daß er nicht geschmiert ist. Genauso haben wir das Weinen eines Tieres zu verstehen und uns nicht zu grämen über den Hund, der im Versuchslabor lebendigen Leibes seziert wird.
    Die Kälbchen weiden auf der Wiese, Teresa sitzt auf einem Baumstumpf und Karenin zu ihren Füßen, den Kopf auf ihren Knien. Teresa erinnert sich, daß sie einmal, vielleicht vor zehn Jahren, eine zweizeilige Zeitungsnotiz gelesen hat: dort stand, man habe in einer russischen Stadt alle Hunde erschossen. Diese unauffällige und scheinbar belanglose Nachricht hatte in ihr angesichts dieses allzu großen Nachbarlandes zum ersten Mal ein Gefühl des Grauens ausgelöst.
    Die Nachricht war eine Vorwegnahme all dessen, was nachher kommen sollte: in den ersten Jahren nach der russischen Invasion konnte man noch nicht von Terror reden. Da fast das ganze Volk das Okkupationsregime mißbilligte, mußten die Russen erst einmal neue Leute unter den Tschechen suchen und sie an die Macht bringen. Wo aber sollten sie sie hernehmen, wenn der Glaube an den Kommunismus und die Liebe zu Rußland tot waren? So suchten sie unter denen, die nichts anderes im Sinn hatten, als sich am Leben zu rächen. Man mußte ihre Aggressivität lenken, pflegen und in Alarmbereitschaft halten. Man mußte sie trainieren, zunächst einmal an einem provisorischen Objekt. Dieses provisorische Objekt waren die Tiere.
    Die Zeitungen fingen damals an, Artikelserien abzudrucken und Leserbriefkampagnen zu organisieren. Zum Beispiel forderte man, in den Städten müßten die Tauben ausgerottet werden. Und sie wurden ausgerottet. Die Hauptkampagne war jedoch gegen die Hunde gerichtet. Die Menschen waren noch völlig verzweifelt über die Katastrophe der Okkupation, aber in den
    Zeitungen, im Radio und im Fernsehen war von nichts anderem die Rede als von den Hunden, die Gehsteige und Parkanlagen verunreinigten, auf diese Weise die Gesundheit der Kinder gefährdeten, zu nichts nütze wären und trotzdem gefüttert würden. Man verursachte eine solche Psychose, daß Teresa Angst bekam, der aufgebrachte Pöbel könnte Karenin etwas antun. Erst ein Jahr später entlud sich die aufgestaute (an den Tieren trainierte) Wut an
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