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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende
Autoren: Kishwar Desai
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nie geschafft, Vergeltung dafür zu erlangen, dass man ihnen ihre Kindheit geraubt hatte. Dazu waren sie letzten Endes doch zu unbedarft. Er hatte ihnen unter die Arme gegriffen – doch zu welch einem entsetzlichen Preis.
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    An [email protected]
    Liebe Simi, was für eine Erleichterung. Ich habe gerade in einer Nachrichtensendung gesehen, dass mein Engel frei ist und dass sämtliche Anklagepunkte gegen sie fallengelassen wurden. Das sind wundervolle Neuigkeiten … Gurmit rief an und sagte, dass du noch schläfst und Durga auch und dass ihr beide morgen mit mir sprecht. Ich kann es gar nicht erwarten, von euch zu hören. Ich fühle mich noch immer ziemlich unwohl nach der Anspannung der letzten Tage. Aber ruft bald an.
    In Liebe, Binny

15. KAPITEL
    12. April 2008
    Es heißt, dass einem nichts im Leben in den Schoß fällt und dass wir alle daran arbeiten müssen, zu uns selbst und zum Glück zu finden. Ich glaube, wo ich mich jetzt befinde, ist ein glücklicher Ort. Das vergangene halbe Jahr habe ich nur damit zugebracht, mich zu erholen und zu versuchen, wieder »normal« zu werden, zu tun, was von uns Mädchen erwartet wird, mich hübsch anziehen und meine Nägel lackieren und Schmuck tragen. Aber irgendwie wandern meine Gedanken immer wieder zurück zu jener Nacht und dazu, was damals wirklich geschehen ist. Natürlich erinnere ich mich daran, obwohl du mir ja dauernd einschärfst, dass ich damit umgehen muss wie mit einem Albtraum, dass man mich gezwungen hat, gewisse Dinge zu tun, und dass ich sie hauptsächlich deswegen getan habe, weil ich so unerwünscht und ungeliebt gewesen bin, dass ich sie für meine Schwester getan habe, dass ich sie für Harpreetsir getan habe. Und dass ich nicht mehr daran denken und ein neues Leben anfangen soll … Ich muss mir selbst vergeben und lernen, mich selbst zu lieben, sagst du.
    Aber wie vergisst man denn die Tyrannei der Träume? Sie haben mein Leben von Anfang an beherrscht mit ihren unwirklich grellen Farben, ihren Landschaften, die eine Fröhlichkeit verströmen, die mir stets verschlossen war. Ich sehe mir meine arme Schwester an. Auch sie ist dieser Tyrannei nie entkommen. Warum hat sie daran geglaubt, dass Träume wahr werden? Sie lebt nun nicht in einer Traumwelt, sondern in einer Welt, in der ihre Albträume sich endlos wiederholen. Ich erinnere mich an ihre weichen Brüste und ihren immer dicker werdenden Bauch, ihren süßen Duft, wenn ich mich in unserem Nachtleben der geheimen Spiele an sie schmiegte …
    Ich sehe sie so vor mir, wie sie jetzt aussieht, weißhaarig und an Leib und Seele gebrochen: Ihre Augen sind glasig von den Drogen, die man ihr gegeben hat, und ihre Finger unablässig auf der Suche nach irgendetwas, sie flattern wie kleine Vögel. Ich weiß, dass sie mich zu ertasten suchen. Sie wird etwas ruhiger, wenn ich mich zu ihr setze. Sie hört dann auf, zu stöhnen und Worte von sich zu geben, die ich nicht verstehe, stattdessen streicht sie mir schweigend zärtlich über die Wange … In ihr sehe ich all unsere Schwestern, all die Töchter, die meine Familie verloren und vergraben hat, in ihr sehe ich ständig das braune Feld hinter dem Haus, wo die Babys erstickt wurden. Nichts davon kann ich je vergessen, auch nicht diese bösen Träume, die mich zwingen, andere Dinge zu tun, obwohl ich doch so sein möchte wie alle anderen … aber diese Träume wollen mir keine Ruhe gönnen, sie lösen in mir ein ständiges Verlangen aus …
    Sie erwecken in mir den Wunsch, die Welt zu zerstören und sie neu zu erschaffen, sie liebevoller, gerechter sein zu lassen … Und dann kehrt die Wut, diese unheimliche Wut zurück, und ich komme mir dann wirklich vor wie Durga, wie die Göttin Durga, die du mir gezeigt hast, mit den unzähligen Armen und den Totenköpfen um den Hals, die Göttin Durga, die erschlagen und erstechen, verwunden und verstümmeln möchte … genau so, wie diesen armen kleinen Babys ein Leid zugefügt wurde. Ich weiß nicht, wann diese Wut von mir weichen wird … vielleicht, wenn ich zurück auf die Schule komme und dort Freundschaften schließe, vielleicht wird sie dann nachlassen. Du sagst mir, dass ich jetzt gerade von den Wogen einer wütenden Flut davongespült werde und warten muss, bis das Meer sich beruhigt, um dann in seinem Wasser wunderschöne
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