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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende
Autoren: Kishwar Desai
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sie mir immer noch davon erzählen. Dass sie es tunlichst vermeidet, über ihre Familie zu sprechen – abgesehen von jähen Wutausbrüchen –, zeigt mir, dass sie ihren Angehörigen noch längst nicht verziehen hat. Dieser ganze patriarchalische Lebensstil, die Art und Weise, wie Töchter in dem Haus der Atwals behandelt wurden, die Unterdrückung ihrer Sexualität – ich könnte eine ganze Abhandlung über die Familie schreiben.
    Oft überkommt Durga eine glasklare Erinnerung an das Vergangene – an die Begräbnisstätte hinter dem Haus, an die Geschichten der Kinder, die dort regelmäßig ermordet wurden, die Unfähigkeit der beiden Mädchen, auch nur einen Schritt aus dem Haus zu tun. Sie hat es immer noch nicht verkraftet, dass auf so unmenschliche Art und Weise entschieden werden konnte, welches Kind leben durfte und welches nicht. Was für ein Makel ist es gewesen, der an ihr haftete? Diese Frage wird sie wohl noch lange Zeit verfolgen.
    Ãœber die bewusste Nacht weiß ich nur sehr wenig, eben nur das, was sie in ihrem Tagebuch darüber geschrieben hat. Auch sie selbst scheint das alles vergessen zu haben. Wie hatte es geschehen können? Machte ich mir etwa Sorgen, dass es sich wiederholen, dass irgendwer Durga überreden konnte, auf ähnliche Weise über uns herzufallen? Aber das glaube ich nicht. Meiner Ansicht nach hat sie darunter gelitten, nicht geliebt zu werden, und kam sich völlig vereinsamt vor, als Harpreet sich daranmachte, ihre Gefühle auszunutzen. Doch nun hat sich alles verändert. Es tut gut, zu wissen, dass sie ihre Beziehung zu ihm hinter sich gelassen hat. Und die kindische Tätowierung auf ihrem Arm wird mit der Zeit auch verblassen.
    Aber es gibt noch einen zweiten Grund, aus dem ich mich weigere, mehr über die Morde in Erfahrung zu bringen: Wir haben nämlich einen Kompromiss mit Ramnath ausgehandelt. Er wird das Haus in Company Bagh jetzt kaufen, allerdings zu einem niedrigeren Preis, als der Markt dafür hergeben würde. Ich glaube, dass weder Binny noch Durga je wieder dort würden leben wollen, also ist es das Beste, es abzustoßen. Sowie Binny aus England hier eintrifft, werden die Verträge unterzeichnet, und dann werde ich ihr alles erzählen. Bisher kennt sie noch nicht sämtliche Einzelheiten der Geschehnisse, denn sie ist immer noch ziemlich mitgenommen und braucht Schonung. Sie hat sich bisher nicht von dem Schock erholt, dass man Durga in eine Klinik für Geistesgestörte eingeliefert hatte, und gibt sich selbst die Schuld daran.
    Ich weiß, dass es merkwürdig anmuten mag, wie unbefangen ich immer noch mit allen an diesem Fall Beteiligten umgehen kann, obwohl ich einige davon doch von ihrer übelsten Seite erlebt habe. Die Jahre meiner Arbeit mit Strafgefangenen haben mich wohl doch abstumpfen lassen. Das Einzige, was mir noch immer sehr am Herzen liegt, ist Durga, und ich möchte ihr helfen, ganz und gar auf eigenen Füßen zu stehen.
    Das ist etwas, wofür ich stets gekämpft und was ich mir schon immer gewünscht habe: eine Minderjährige aus dem Gefängnis heraus und in eine freie Welt zu holen und ihr dann vielleicht sogar zu helfen, sich ein neues Leben aufzubauen. Auf diesem Weg hoffe ich, eines Tages Erlösung zu erlangen. Ob diese Hoffnung sich nun erfüllt?
    Ist dies also ein Experiment? Versuche ich, Gott zu spielen? Könnte sein. Wird es mir gelingen? Wer weiß? An dem Tag, an dem Durga ganz eigenständig einer Arbeit nachgeht, vielleicht sogar mit jemandem, der sie liebt, eine Familie gründet, wird sich alles bezahlt machen.
    Ich habe Durga ins Herz geschlossen. Sie wird ein Leben lang liebevoller Zuneigung und meines Schutzes bedürfen, so dass ich denke, dass es nur recht ist, wenn dies mein letzter Fall gewesen sein soll. Und das ist natürlich auch der wahre Grund, aus dem ich nichts weiter über jene Nacht wissen möchte. Ich warte auf den Augenblick, wo sie sich irgendwie aus jener dunklen Welt, in die man sie hineingestoßen hat, befreit und es ihr gelingt, ihre Fesseln zu sprengen, und sie endlich frei ist von den Gespenstern, die sie verfolgen, frei auch von Harpreetsir. Ich sehe immer noch die Bilder in ihren Augen. Ich höre, wie sie mir erzählt, dass ihre Schwester Börsenmaklerin hatte werden wollen und dass sie selbst davon träumt, Ärztin zu werden oder Ingenieurin. Ich bin mir sicher, dass sie
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