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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske
Autoren: Helene Henke
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Mädchens verbarg, hatte Zoe erst viel später erfahren. Die zwölfjährige Luisa hatte mit ihrer Familie auf einem abgelegenen Hof gewohnt und war an den Folgen einer Schwangerschaftsvergiftung gestorben. Ihr eigener Vater war der Kindsvater gewesen.
    Seit jener Nacht hatte Großvater Zoe immer wieder mit in den Behandlungsraum genommen. Zunächst heimlich, um ihre Mutter nicht zu verärgern, später ganz offen. Nach und nach lehrte er sie die einzelnen Arbeitsschritte, die Zoe in sorgfältiger Schönschrift in ihr Notizbuch eingetragen hatte, wie andere Mädchen ein Poesiealbum führten.
    Bis heute lagerte das Büchlein in speckigem Ledereinband in der obersten Schublade des Sideboards.
    Sie stellte die Musik wieder lauter, um die Geister der Vergangenheit zu verscheuchen.

    Zoe fädelte den dicken Baumwollfaden in eine chirurgische Nadel, um Frau Sonders' Lippen durch die Nasenhöhle hindurch zuzunähen, damit sich der Mund nicht nachträglich öffnete. Dazu massierte sie zunächst die Wangen von den Schläfen zur Gesichtsmitte hin, um die Leichenstarre um den Mund zu lösen. Die gebogene Nadel stach knirschend in den Gaumen und ließ Zoe unweigerlich an die Betäubungsspritze beim Zahnarzt denken. Sie vernähte in der Mundhöhle Nase, Lippen und Kinn, zog mit einem Ruck an dem heraushängenden Faden, sodass der Mund zuklappte. Zuletzt verknotete sie den Faden und ließ ihn samt einem Mundformer aus gebogenem Plastik zwischen die Lippen gleiten. Frau Sonders hatte einen schön geschwungenen Mund, kaum eine Falte zog sich über die volle Oberlippe. Sicherlich war er bis ins Alter liebevoll mit Lippenstift hervorgehoben worden. So sollte es auch für den letzten Abschied sein. Doch es gab außerdem die Möglichkeit, den entspannten Gesichtsausdruck eines Verstorbenen für immer festzuhalten. Zoe warf einen flüchtigen Blick auf die Schüssel mit der angerührten Kunststoffmischung. Manchmal bekam sie den Auftrag, einen Abdruck des Gesichts anzufertigen, um daraus eine Totenmaske herzustellen. Ein Kunsthandwerk, das in der modernen Gesellschaft an Bedeutung verloren hatte. Die Schnelllebigkeit hatte eine Art Schnellsterben nach sich gezogen. Dennoch gab es immer wieder Menschen, denen es ein besonderer Trost war, ihren Verstorbenen mit einem verewigten Antlitz zu ehren. Bislang kamen Aufträge dieser besonderen Art vereinzelt von Industriellen oder Adligen in ganz Deutschland. Doch auch die normalen Leute schienen sich langsam an diese alte Tradition zu erinnern. Nachdem Zoe ein paarmal im Nachhinein darauf angesprochen worden war, wenn die Beerdigung längst vorbei und der Sarg unter der Erde war, hatte sie beschlossen, routinemäßig nach jeder Behandlung vorsorglich einen Abdruck vom Gesicht des Toten zu ziehen. Dass sie dabei ohne die Zustimmung der Angehörigen handelte, erzeugte jedes Mal einen Anflug von schlechtem Gewissen. Aber sie musste es schließlich niemandem erzählen. Wenn die nachträgliche Anfrage kam, war sie vorbereitet, was erfahrungsgemäß Erleichterung unter allen Betroffenen hervorrief.
    Mit einem Kopfschütteln wischte sie ihre Bedenken beiseite und griff zielsicher nach den beiden mit Noppen versehenen Plastikkappen. Sie legte die kontaktlinsenartigen Kappen auf die Augäpfel der Toten und zog behutsam die Lider darüber, damit die Augen fest geschlossen blieben. Somit war einem weiteren vermeintlichen Schreckgespenst jeder Trauerfeier vorgebeugt. Außerdem verhinderte es das postmortale Einsinken der Augenlider und diente als Grundlage für die Negativform der Totenmaske.
    Zoe stellte einen anderen Radiosender ein. Wie die Hintergrundmusik in einem Supermarkt, erklang der Sound eines aktuellen Popsongs. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, ließ sich von der Musik ins Leben zurückholen. Während sie mit einem Pinsel die Kunststoffmasse auf Frau Sonders’ Gesicht auftrug, sang sie den Refrain mit. Eine Weile musste die Masse trocknen.
    Den Sarg zog sie auf Rollen aus dem Nebenraum und bettete den Körper behutsam auf ein Spitzenkissen. Rückstände von der Plastikmasse brauchte sie nicht zu befürchten. Am Fußende des Sarges lag ein ordentlich zusammengefaltetes Bündel Kleider. Zoe schnitt die Bluse, den Rock und den weißen Schlüpfer an den Hinterseiten auf und streifte der Toten die Sachen über. Frau Sonders kam ihr nun vor wie die größere Ausführung dieser Ankleidefiguren aus Pappe, deren Kleider sie als Kind ausgeschnitten und an den weißen umklappbaren
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