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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske
Autoren: Helene Henke
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aufrichtete, um seine Hose zu öffnen. Er kippte zur Seite wie ein nasser Sandsack. Trotz des Schreckens hatte Zoe sich instinktiv zur Seite gerollt und zitternd gegen den Baumstamm gedrückt, weil es ihr nicht gelingen wollte, sich darunter zu verkriechen. Stattdessen hatte sie ihre Beine angezogen und ihre Arme bei dem Versuch, sich so klein wie möglich zu machen, um sich geschlungen. Nie zuvor war ihr so kalt gewesen. Ihr Verstand hatte in den Stand-by-Modus geschaltet. Nur aus der Ferne nahm sie ihr Wimmern wahr. Joshs Worte trafen sie bis in die Tiefen ihres Seins, drangen durch die zugeschlagene Tür, die ihre Seele vor Verletzungen schützen sollte. Er machte ihr keine Vorwürfe wegen ihres unbedachten Verhaltens. Brauchte er auch nicht. Dafür sorgte Zoe schon selbst. Sie war Boris in den Wald gefolgt, ohne zu ahnen, dass es sich nur um einen Vorwand handelte, dass die ganze Oberstufe sich dort träfe. Joshs Bemühungen, sie davon abzuhalten, waren fehlgeschlagen, im Gegenteil: Zoe hielt ihn für eifersüchtig. Angeblich waren die jüngeren Schüler nicht zu dem Treffen eingeladen. Niemand war eingeladen.
    Während Josh ihr seine Jacke um die Schultern gelegt und sie vorsichtig in seine Arme gezogen hatte, redete er unentwegt über den geheimen Ort, den jeder in sich trug und der von niemandem beschmutzt werden konnte, wenn man es nicht wollte. Wie recht er damit gehabt hatte, denn Zoe war längst an diesen fernen Ort in ihrem Inneren geflüchtet, hatte die Kontrolle über ihren Körper aufgegeben, als die Qual unerträglich geworden war. Irgendwann zwischen Fausthieben und dem grauenvollen Geräusch von gewaltsam zerrissenem Stoff. Dass es sich dabei um ihre eigene Bluse gehandelt hatte, nahm Zoe nur noch wie im Traum wahr. Ein anderer Teil von ihr hatte die Leitung über Emotionen und Gedanken übernommen. Auf der Schwelle zwischen Ohnmacht und Wachzustand hatte dieses andere Ich sich kurz vorgestellt, bevor es Zoe in die schützende Tiefe ihres Unterbewusstseins hinabzog. Es war nichts weiter als eine Sinnestäuschung. Unwirklich, aus der Not heraus entstanden. Doch Zoe fühlte sich gerettet, also ließ sie es geschehen. Ihr zweites Ich war stark wie eine Granitwand und erfüllt von kraftvollem Zorn.
    Joshs Vater war in voller Jagdmontur aufgetaucht und hatte mit seinem Gewehr Boris’ Freunde in Schach gehalten, während er mit dem Handy die Polizei verständigte. Josh war gern mit seinem Vater auf die Jagd gegangen, auch an jenem Tag.
    Nach der Untersuchung im Krankenhaus wurde Zoe intensiv vom psychologischen Dienst befragt. Als ob dieser Marathon nicht ausgereicht hätte, musste Zoe danach noch wochenlang unter den Hasstiraden ihrer Mutter leiden, nach deren Auffassung die Täter zumindest gesteinigt gehört hätten. Dadurch erlebte Zoe die Tat vor ihrem inneren Auge ständig aufs Neue, geriet in die Endlosschleife eines Computerprogramms, das sich aufgehängt hatte und ständig dieselbe Frequenz startete. Sie war schließlich nur ein halbes Opfer. Also eher keins. Das bewies auch die lapidare Rüge, welche das Strafmaß des halben Täters ausmachte. Nämlich nichts. Dabei wollte sie einfach nur zur Ruhe kommen. Wenigstens so tun, als könnte sie vergessen, dass ausgerechnet der Junge, in den sie heimlich verliebt gewesen war, ihre romantische Vorstellung vom ersten Mal für immer zerstört hatte.
    Zoe rieb sich über den Arm. Allein die Erinnerung trieb kalte Schauer über ihren Rücken. Die einzige Bewegung, zu der sie in der Lage war, bestand in einem sich wiederholenden Räuspern. Das geschah immer, wenn sie nervös wurde, und steigerte sich zu einem flatternden Klopfgefühl hinter ihrem Brustbein. Sie wollte Hass verspüren, doch er blieb aus. War das Unterbewusste tatsächlich so geschickt, dass es schreckliche Erinnerungen einfach herausfilterte? Dieser Gedanke machte Zoe Angst, auch wenn es sich um einen reinen Selbstschutzmechanismus handelte. Sie kam sich vor wie ein geprügelter Hund, der seinem Herrchen dennoch folgte, wenn auch mit eingekniffenem Schwanz. Herrje, sie war doch kein Hündchen! Durch die Nase zog sie tief die Luft ein, versuchte gleichzeitig, ihre Gedanken zu ordnen.
    »Jetzt sag nicht, du starrst diesen Bastard an!« Josh klang beiläufig, einen Hauch vorwurfsvoll.
    Augenblicklich fuhr Zoe herum. »Wo kommst du denn auf einmal her?«
    »Aus der Schule. Woher sonst?« Er deutete mit dem Kopf auf seinen Rucksack, ohne den Blick von der anderen Straßenseite zu wenden.
    Seine
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