Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske
Autoren: Helene Henke
Vom Netzwerk:
leichter zu ertragen. Wirklich ärgerlich, so etwas zu vergessen! Sie warf einen wütenden Blick zur anderen Seite des Labors, auf dessen Sideboard die Tube Mentholin lag.
    Schnell reinigte und desinfizierte sie den Unterkörper der Leiche, um mit der Behandlung fortzufahren. Sie beeilte sich, Anus und Scheide mit feuchtigkeitsbindendem Pulver und jeder Menge Watte zu verschließen. Irgendwie erschien Zoe die Arbeit am Unterleib einer Leiche unmoralisch. Natürlich interessierte sich niemand mehr dafür, aber Frau Sonders war vielleicht eine besonders schamhafte Person gewesen. Und selbst wenn nicht, stellte es dennoch einen Eingriff in die Intimsphäre eines Menschen dar. Der allerdings unausweichlich war. Das Einzige, was Zoe tun konnte, bestand darin, möglichst routiniert und zügig zu arbeiten, um sich bald wieder dem angenehmeren Teil der Totenversorgung zu widmen. Spätestens an dieser Stelle veränderte sich ihr Bezug zum Verstorbenen. Der Klient wurde nach und nach zum Objekt ihrer Kunstfertigkeit wie eine lebensgroße Puppe, die präpariert wurde. Selbstredend verlor sie nicht den Respekt, doch ging sie innerlich auf Abstand, hörte auf, mit den Toten zu reden.
    Unerwartet erinnerte Zoe sich an die Zeit, als Tote für sie tatsächlich Puppen gewesen waren. Die Bilder tauchten abrupt vor ihrem inneren Auge auf, ließen sie innehalten. Für einen winzigen Sekundenbruchteil glaubte sie, Großvaters gutmütige und ihre eigene helle Kleinmädchenstimme zu hören, als er sie damals aufgeweckt und vom Boden neben dem Behandlungstisch gehoben hatte.
    »Was tust du nur hier, mein Kind?« Großvater strich ihr behutsam über den Kopf.
    Zoe rieb sich schläfrig die Augen. »Das Mädchen hat sich einsam gefühlt, da habe ich ihm Gesellschaft geleistet.«
    Die Besorgnis in Großvaters Gesicht verwandelte sich in einen Ausdruck, den es nur annahm, wenn ihn etwas zutiefst überraschte. Kopfschüttelnd blickte er zum Sektionstisch.
    Ihre Mutter tauchte hinter ihnen auf und schnappte hörbar nach Luft, wie sie es immer tat, wenn sie sich aufregte. Sie schimpfte unablässig, während sie Zoes Bettdecke vom Boden aufhob. Zu Zoes Verwunderung galten die Tiraden nicht ihr, sondern ihrem Großvater. Grund genug, dem keine weitere Beachtung zu schenken.
    Manche Kinder haben imaginäre Freunde – Zoe hatte die Toten, mit denen ihre frühen Erinnerungen unmittelbar einhergingen. Es war ihr elfter Geburtstag gewesen, den sie wie üblich ausschließlich unter Erwachsenen verbracht hatte, weil keine Freunde eingeladen waren und diese ohnehin wichtige Termine wie Reitstunden und Klavierunterricht hatten. Aus Langeweile war Zoe in den Behandlungsraum geschlichen und hatte damit angefangen, dem toten Mädchen das Haar zu kämmen. Es war pechschwarz und glänzend. Aber der weiße Kittel, den es trug, war überhaupt nicht hübsch – dafür Zoes Kommunionkleid, das in einem Schrank im Keller nebenan aufbewahrt wurde. Sogar weiße Spitzenstrümpfe und Lackschuhe fand sie dort, und alles passte dem toten Mädchen. Auf einem wackeligen Stuhl stehend, kleidete Zoe das Mädchen mit umständlichen Handgriffen ein. Die Arme waren so steif wie das Hartplastik, aus dem ihre Barbiepuppe bestand, doch diese hatte wenigstens einen Arm leicht angewinkelt. Der Stoff des Kleides knirschte, als Zoe es mühsam über die noch freie Schulter des Mädchens zerrte. Es gelang ihr aber nicht, den Reißverschluss zu schließen, weil der Stoff sich über den dicken Bauch des Mädchens spannte. Ein paarmal hatte Zoe fest auf den Bauch gedrückt, damit er verschwand, doch er hielt sich hartnäckig, als steckte ein Ball darin. Dafür würde das Mädchen sicher glücklich sein, so schöne Sachen zu tragen.
    »Opa, ist das Mädchen gestorben, weil es zu viel gegessen hat?«
    »Herrgott, das Kind bekommt noch einen Schaden fürs Leben!«, mischte Zoes Mutter sich ein.
    Ihr Großvater ignorierte sie und tätschelte Zoes Kopf. »Nein, sie wurde von Gott gerufen.«
    Eine Weile hatte Zoe dagestanden, die streitenden Erwachsenen nacheinander angeblickt und dabei herzhaft gegähnt. Ihr Großvater redete mit beharrlicher Ruhe von einer besonderen Begabung. Vermutlich lagen beide mit ihren Vorhersagen richtig. Aber das wussten sie nicht, und deshalb stritten sie sich.
    Zoe hatte sich leise von dem toten Mädchen verabschiedet, ihre Schmusedecke gegriffen und war in ihr Zimmer hinaufgegangen.
    Von der Tragödie, die sich hinter dem vermeintlich aufgeblähten Bauch des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher