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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske
Autoren: Helene Henke
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Kapitel 1
    I n der Ferne duckte sich eine Gruppe Eichen wie bezwungene Riesen unter der tiefhängenden Wolkendecke. Unablässig zwangen Regentropfen die sattgrünen Blätter hinab wie Schaufeln eines Wasserrades. Das Tageslicht verblasste allmählich und würde bald sein hellgraues Kleid gegen den tiefschwarzen Umhang der Nacht eintauschen. Der Sommersturm hatte Birkheim fest im Griff und würde vermutlich noch eine Weile durch die Täler und Hügel des Hunsrücks toben. Für den nächsten Tag würde das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten sein, was bedeutete, dass es vorerst nicht möglich wäre, in den Nachbarorten einzukaufen.
    Eine Bö wehte heran, ließ die Aluminiumjalousien an ihren Befestigungen flattern. Zoe Lenz stützte sich mit einer Hand am Rand des Waschbeckens ab, richtete sich auf den Zehenspitzen auf, bis ihre Wadenmuskeln protestierten, und zog das Schiebefenster zu. Genug Frischluftzufuhr für heute! Sie schnaubte missmutig. Unbestreitbar war es ein Nachteil, dass Fenster im Souterrain hoch lagen und der Architekt bei der Planung nicht an kleinere Menschen gedacht hatte. Dafür verfügte der Raum für gewöhnlich über genügend Tageslicht, bei dem es sich angenehmer arbeiten ließ als unter grellem Neonlicht.
    Zoes Trittleiter lehnte auf der entgegengesetzten Seite des Labors an einem der zahlreichen Hochschränke. Dort stand sie gut. Zoe stellte das Wasser an und wusch sich die Hände mit desinfizierender Seife. Dabei lauschte sie dem Geräusch, das die Zweige des Gebüsches verursachten, die gegen die Fensterscheibe schlugen. Sie musste dringend einen Gärtner bestellen, sonst würde das Grünzeug noch das ganze Haus überwuchern!
    Mit dem Ellbogen drückte sie den Wasserhebel herunter und griff nach einem Einweghandtuch. Auf den Mundschutz konnte sie verzichten, da Frau Sonders nicht an einer ansteckenden Krankheit gestorben war. Auf die Latexhandschuhe hingegen nicht. Sie stopfte ihre dunklen Locken unter die Einweghaube, was einiges an Geschick erforderte. So einfach ließ sich ihre schulterlange Mähne nicht bändigen. Nachdem die letzte Strähne unter knisterndem Plastik verschwunden war, ging sie um den Behandlungstisch herum. Ein süßlicher Geruch strömte herein, als Zoe die Tür des Lastenaufzugs öffnete, der den Körper der alten Dame von der Halle ins Labor hinuntertransportiert hatte. Erst wenn Zoe mit ihrer Arbeit fertig war, würde sie den Leichnam bis zur Trauerfeier im angrenzenden Kühlraum aufbewahren.
    An den Haltegriffen zog sie den Leichentransportsack wie eine überdimensionale Reisetasche auf die Rollliege, um den verschnürten Körper zum Behandlungstisch zu bringen. Es kostete sie nicht besonders viel Kraft. Frau Sonders wog nicht viel mehr als ein Kind, und Zoe hatte im Laufe der Jahre schon bedeutend schwerere Körper auf ihren Tisch gewuchtet. Nur selten benötigte sie dazu die Hilfe eines Kollegen vom Bereitschaftsdienst. Manchmal legte ihr Freund Josh Hand an wie kürzlich bei Theo, dem Bauarbeiter, der unter einer herabgestürzten Kranschaufel begraben worden war.
    Josh hielt sich gern in Zoes Labor auf, nicht zuletzt, weil er außer ihr keine Freunde hatte.
    Zoe war eine der wenigen geprüften Thanatologinnen in Deutschland, was sie dazu verpflichtete, anderen Bestatterkollegen, die nicht über diese Ausbildung verfügten, ihre Dienste anzubieten. Bisher waren allerdings entsprechende Anfragen ausgeblieben. Aber das konnte sich ja noch ändern. Irgendwann. Allgemeinhin galten Bestatter als sonderbar. Menschen verdrängten den Tod und beschäftigten sich erst damit, wenn ihnen keine Wahl mehr blieb. Seinen Lebensunterhalt mit dem Geschäft rund um die Toten zu bestreiten, war den meisten nicht geheuer. In den Augen der Bestatter selbst galt Zoe als absonderlich. Nicht nur, dass sie in eine der letzten Männerdomänen eindrang – sie war auch noch zu jung für den Beruf des Bestatters. Da eilten die Herren erst recht nicht herbei, um ihre Dienste als Thanatologin in Anspruch zu nehmen.
    Für gewöhnlich nahmen Bestatter nicht mal Schulabgänger in die Ausbildung, weil ihnen die nötige emotionale Reife fehlte. Der Umgang mit dem Tod zog Konflikte im sozialen Umfeld und der eigenen Integrität mit sich. Nicht nur bei jungen Menschen. Interessenten kamen über den zweiten Bildungsweg aus ähnlichen Berufsgruppen und verfügten über ausreichend Lebenserfahrung. Das konnte Zoe durchaus nachvollziehen, wenn auch der Gedanke ihr regelmäßig ein Schmunzeln
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