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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske
Autoren: Helene Henke
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entlockte. Ihr war der Beruf seit ihrer Kindheit vertraut.
    Zwar handelte es sich dabei nicht auch um ein Spezialgebiet von Josh, doch die Vorgänge während des postmortalen Zersetzungsprozesses weckten sein naturwissenschaftliches Interesse, und sein Wissen darüber hatte ihm nicht selten Zusatzpunkte in Klausuren seiner Leistungskurse eingebracht. Dennoch waren Besuche im Labor rar, weil Zoe es vorzog, dort allein zu sein. Aus Respekt vor den Toten. Es war für die Menschen in Birkheim ohnehin nicht einfach, sich mit einer neunzehnjährigen Bestatterin abzufinden. Die Vorstellung, sie arbeitete auch noch gemeinsam mit einem siebzehnjährigen Gymnasiasten an den Verstorbenen, erzeugte bei den Hinterbliebenen Unbehagen und überforderte die allgemeine Akzeptanz.
    Zoe schaltete die Operationslampe über sich an und drückte sie am Schwenkarm ein wenig zur Seite, damit das gleißende Licht auf der noch leeren Metallfläche sie nicht blendete. Sie positionierte den Beistellwagen für Geräte neben sich und schaltete das dort angebrachte Radio ein. Sie musste keinen Sender wählen, da der Klassikkanal meistens die passende Musikauswahl bot. Sanfte Geigenklänge schienen dem gekachelten Raum harmonische Wärme zu verleihen, lösten den Bann der beklemmenden Situation. Zoe mochte klassische Musik, weil sie irgendwie leise war, auch wenn man sie laut aufdrehte. Bestimmt hätte sie auch der zurückhaltend freundlichen Frau Sonders gefallen. Nur wenn es Zoe mit einem besonders brisanten Fall zu tun bekam, wählte sie harte Techno-Klänge, um sich abzulenken. Dann konnte sie, sogar obwohl sie schon ein paar Jahre in diesem Beruf arbeitete, kaum verhindern, zu glauben, dass sie sich inmitten eines Horrorszenariums befand. Die Versorgung eines im Krankenhaus nur notdürftig zusammengeflickten Unfallopfers erforderte nicht nur ihre gesamte Aufmerksamkeit, sondern zerrte auch an ihren Nerven. Es gab Dinge, an die man sich nur schwer gewöhnen konnte.
    Mit einem Surren zog Zoe den Reißverschluss des Leichensacks auf und drückte die Seiten um den Körper nach unten, damit sie möglichst bequem hineingreifen konnte. Es war äußerst lästig, wenn sich das Plastik beim Anheben der Leiche verfing und dadurch auch noch mitgezogen wurde. Sie wollte vermeiden, mit der Verstorbenen auf dem Arm zu stolpern oder sie in einer ziemlich unwürdigen Haltung abzustützen, um mit der freien Hand die Reste des Sacks abzuzupfen. Frau Sonders lag in ihrem weißen Hemd da wie ein Mädchen im Sonntagskleid. Bereits jetzt sah sie aus, als schliefe sie, was auf einen friedlichen Tod schließen ließ. Doch Zoe sah ihre Aufgabe darin, die Frau ausschauen zu lassen, als hätte sie während eines Spaziergangs innegehalten, um mit geschlossenen Augen die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht zu genießen.
    Mit routinierten Griffen hob sie den steifen Körper auf den Behandlungstisch. Da lag sie nun mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund. Beim Aufschnüren des Hemdes bemerkte sie an den Unterseiten des puppenhaften Oberkörpers blaurote Flecken. Es war nicht notwendig, diese zu überschminken, da sie später niemand sehen würde.
    Zufrieden strich Zoe über die Wange der Toten, deren Kälte ihr schon lange nichts mehr ausmachte. Keine bläulichen Verfärbungen dank der Schräglage im Aufzug, wodurch verhindert wurde, dass einer Leiche das Blut ins Gesicht laufen konnte. Nachdem sie den Körper sowie sämtliche Körperöffnungen sorgfältig mit Desinfektionsspray eingesprüht hatte, legte sie den Kopf der Frau in eine Nackenstütze. Draußen prasselte der Regen gegen die Fensterscheibe, als wollte er sich den Klängen des Klaviersonetts anpassen, das inzwischen im Radio gespielt wurde. Mit einer Pinzette griff Zoe einen in Desinfektionsmittel getauchten Wattebausch und säuberte die Ohren sowie die Nasenlöcher. Mehrmals wechselte sie die Watte aus, strich unter den Wimpern und den bereits schwarz verfärbten Fingernägeln entlang.
    »Die werde ich später in einem hübschen Perlmuttrosa lackieren«, versprach Zoe der Toten.
    Sie redete gern mit ihren Schlafenden. Schließlich hatte sie es mit Menschen zu tun, auch wenn diese nicht mehr antworteten. Es brachte eine Atmosphäre der Unvergänglichkeit in den Raum, zeigte, dass das Leben einem sich ständig wiederholenden Ablauf folgte. Und zum Leben gehörte auch der Tod.
    Anfangs war es für Zoe nicht einfach gewesen, ihre Pläne zu ändern und der Familientradition gemäß dem Beruf der
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