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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske
Autoren: Helene Henke
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Papierhalterungen an die zweidimensionalen Schultern gedrückt hatte.
    Zuletzt massierte sie geduldig die Finger der Toten, um ihre Hände falten zu können. Der Kosmetiktisch stand in Reichweite, so dass Zoe wie versprochen die Fingernägel der Frau lackierte.
    Die Handgriffe, mit denen sie danach ihre Latexhandschuhe abstreifte, ähnelten dem Abnehmen der getrockneten Kunststoffmasse. Da das Gesicht der Toten gründlich eingefettet war, löste sich das Material ohne Probleme. Vorsichtig legte sie den Negativabdruck auf ein trockenes Tuch wie einen geheimen Schatz, den es zu bergen galt. Für Zoe waren alle Abdrücke von besonderem Wert. Jedem Einzelnen widmete sie sich eingehend in ihrem Atelier, wohin sie auch Frau Sonders’ zurückgelassene Spur in der Welt der Lebenden bringen wollte. Noch ein bisschen Puder, Rouge und Lippenstift.
    Abschließend legte sie eine aufwendig mit Spitzen vernähte Decke über die Beine der Toten. Fertig für den letzten großen Auftritt. Lächelnd zupfte Zoe eine Locke über die Stirn der Leiche.

Kapitel 2
    Z oe trat aus der Drogerie in Emmelshausen und schulterte die Einkaufstasche, deren lange Riemen augenblicklich durch den Stoff ihres T-Shirts in ihre Schultern schnitten. Mit zusammengepressten Lippen kramte sie in den Untiefen ihrer Handtasche nach den Autoschlüsseln. Es standen noch ein paar Besorgungen an, für die sie regelmäßig in den Nachbarort fuhr. In Birkheim gab es nur einen kleinen Krämerladen für das Notwendigste, was sich auf ein paar Grundnahrungsmittel und eine nicht nennenswerte Auswahl an Kurzwaren beschränkte. Den Schlüsselbund endlich in der Hand, setzte sie einen Fuß auf die Straße, um sie zu überqueren, blieb dann jedoch abrupt stehen. Der Schreck legte sich wie ein stählernes Korsett um Zoes Leib. Einen Moment lang glaubte sie, der gerade an ihr vorbeigerauschte Bus hätte sie getroffen.
    Das gelbe Chevrolet-Cabrio stand auf der anderen Straßenseite, ein Stück versetzt, so dass der Fahrer ihr halb den Rücken zukehrte. Techno-Bässe hallten aufdringlich zu ihr herüber, schienen alle anderen Geräusche der Geschäftsstraße zu überlagern. Ein blonder Haarschopf bewegte sich verhalten im Takt der Musik und hielt zwischendurch inne, damit der Fahrer einen Bissen von seinem Hamburger nehmen konnte. Zoe erkannte ihn sofort. Feine elektrische Ströme ließen ihr Herz hart schlagen. Boris Nauens andere Hand ruhte auf dem Lenkrad, eine Zigarette qualmte zwischen seinen Fingern. In abgehackten Bildern rasten plötzliche Erinnerungen vor ihrem inneren Auge vorbei. Dazu genügte der Anblick seines Profils. Der leicht angehobene Spann auf seinem Nasenbein, volle Lippen, die lässige Körperhaltung. Abgesehen von dem feinen Bartvlies, das sich über seine Wange zog, schien er sich in den vergangenen Jahren nicht verändert zu haben. Sogar seine Kumpel waren dem unsichtbaren Band der ewigen Treue gegenüber ihrem Anführer gefolgt und fläzten sich auf der Rückbank.
    Seit dem Übergriff hatte Zoe Boris nicht mehr gesehen. Er war damals von der Schule verwiesen worden. Das berüchtigte Trio infernale verschwand auf ein Privatinternat, und damit hatte sich vermeintliche Ruhe über den Ort gelegt. Für eine versuchte Vergewaltigung ein deutlich mildes Strafmaß, was nicht zuletzt den einflussreichen Vätern der jugendlichen Straftäter zu verdanken gewesen war. Doch die allgemeine Empörung schlug bald in Erleichterung um. Die Menschen vergaßen schnell. Zoe nicht.
    Sie erinnerte sich genau an das Gefühl, von Boris’ Körper ins Herbstlaub gepresst zu werden. An seine gierigen Hände, die ihre Brüste quetschten, während er gleichzeitig ihre Bluse zerriss. Die harte Rinde des umgefallenen Baumstamms, an der sie sich die Wange aufgerissen hatte. Angst und Scham in einem Ausmaß, wie sie es sich in ihren schlimmsten Alpträumen nicht hätte vorstellen können. Seine Kumpel hatten nichts Besseres zu tun gehabt, als ihn mit obszönen Ausrufen und Gesten anzufeuern wie abgedrehte Zuschauer eines Boxkampfes. Festhalten brauchte sie niemand mehr, nachdem Boris’ Faust ihre Schläfe getroffen und sie auf den Boden niedergestreckt hatte. Stattdessen starrten sie auf ihren hochgerissenen Rock, ihre gewaltsam gespreizten Beine. Kalter Wind hatte Zoes Haut gestreift, an Stellen, die für gewöhnlich niemals mit Dreck und verrotteten Blättern in Berührung kamen.
    Der Kolben von Joshs Jagdgewehr hatte Boris’ Kopf in dem Moment getroffen, als dieser sich
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