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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske
Autoren: Helene Henke
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Schnaps und seinen Sohn. Zoe hatte den Mann nur aus der Ferne gesehen, hinter einer Fensterscheibe. Sie konnte kaum glauben, dass der hochbegabte Josh solch einfachen Verhältnissen entstammte. Über seine Mutter sprach er nicht, sein Leben schien er allein zu regeln. Das war für Zoe nichts Neues. Dennoch tat er ihr leid. Niemand konnte sich aussuchen, in welche Umgebung er hineingeboren wurde.
    Eine Gruppe Neuntklässler trottete ihnen entgegen. Zoe verdrehte unwillkürlich die Augen, denn schon von weitem war zu erkennen, dass die Schüler sich auf eine Konfrontation mit dem Nerd und der Leichentante vorbereiteten. Sie hakten die Arme ineinander, um eine provokante Kette zu bilden, die es jedem Entgegenkommenden unmöglich machte, daran vorbeizulaufen. Dazu war der Fußweg zu schmal. Irgendjemand würde ausweichen müssen. Josh drängte sich bereits nahe an die Hecke, wie er es stets tat, wenn vermeintliche Gefahr drohte. Machte nichts. Er würde mit Sicherheit sofort umgeschubst werden und sich dabei auch noch verletzen. Zoe hingegen straffte die Schultern und fühlte sich in Machtkämpfe ihrer eigenen Schulzeit zurückversetzt. Es war schon eine Weile her, dennoch spürte sie einen gewissen Reiz darin, sich auf eine kleine Reiberei einzulassen. Es mutete wie eine Pause von der Welt der Erwachsenen an, in die sie viel zu früh eingetreten war. Die Situation kam ihr gerade gelegen. Genug Wut hatte sich in ihrem Bauch angesammelt. Wehe dem, der es wagte, sie anzurempeln! Mit aller Kraft würde sie dagegensetzen, wie sie es immer getan hatte. In Erwartung des bevorstehenden Zusammenpralls pumpte Adrenalin in ihr hoch, als säße sie am Steuer ihres Wagens, um mit Vollgas auf Kollisionskurs mit einem anderen Fahrzeug zu gehen. Mit bewegungsloser Miene lief sie zielsicher der Schülergruppe entgegen. Zu ihrer Überraschung löste sich die Phalanx, so dass Zoe mitten hindurchspazieren konnte, ohne ihr Tempo zu verringern. Der Torero hatte rechtzeitig das rote Tuch zur Seite gezogen. Ein Junge wich schnell zur Seite, damit er Zoe nicht mit der Schulter berührte. Dabei zuckte er einmal zu viel mit dem Kopf, um seine Trendfrisur in Form zu bringen. Zoe musste sich ein Grinsen verkneifen.
    Im Vorbeigehen schnupperten zwei aus der Gruppe übertrieben in ihre Richtung, um dann mit angewiderten Gesichtern die Nase zu rümpfen. Daraufhin entfuhr Zoe ein genervtes Stöhnen.
    Klar doch, Bestatter rochen nach Leichen und Müllmänner nach Müll! Lächerlich!
    Anfeindungen waren Zoe noch wohl vertraut. Schließlich hatte sie damit ihre ganze Schulzeit hindurch zu kämpfen gehabt, neben den abfälligen Beschimpfungen aus sicherer Entfernung, wohlgemerkt.
    »Meine Güte! Sind solche Aktionen jetzt Schultradition? Die waren doch noch fast Abc-Schützen, als ich von der Schule abging!« Wütend stapfte Zoe weiter.
    Josh schloss neben ihr auf, schob seine Brille zurück und zuckte mit den Achseln. Schweigen bedeutete Zustimmung. Wahrscheinlich waren diese Lästereien nie wirklich ausgestorben und erfuhren nun mit Boris Nauens Rückkehr frischen Aufwind.
    Ohne ein Wort liefen sie eine Weile nebeneinander her. Was in Joshs Kopf vor sich ging, konnte Zoe nicht ausmachen. Er trug seine grüblerische, verschlossene Miene zur Schau. Sie war ohnehin mit dem unangenehmen Gefühl beschäftigt, von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt worden zu sein. Boris und seine Kumpel dürften bald wieder für Aufsehen sorgen. Es war kaum vorstellbar, dass die drei plötzlich erwachsen geworden sein sollten. Allein Boris’ Haltung vorhin im Auto ließ erahnen, dass der Ärger nicht lange auf sich warten lassen würde. Wahrscheinlich zierten in den nächsten Tagen neue Graffitis die weißgetünchten Wände der Einfamilienhäuser. Ihm aus dem Weg zu gehen, dürfte das Beste sein. Im normalen Alltagsleben stellte das auch kein Problem dar, denn es war sehr unwahrscheinlich, dass er in ihrem Geschäft auftauchen würde. Was Zoes nächtliche Aktivitäten betraf, könnte es schon schwieriger werden. Doch dafür gab es andere Mittel.
    »Hast du nicht Lust, mit mir ins Pydna zu gehen?«, fragte Josh plötzlich, als sie vor dem Gemüseladen stehen blieben.
    Ein leiser Schrecken erfasste Zoe, als hätte er sie bei etwas Verbotenem ertappt. Schnell wischte sie diesen unsinnigen Gedanken beiseite. Schließlich konnte Josh wohl kaum ihre Gedanken lesen. Nachdem sie ihn kurz von der Seite gemustert hatte, konzentrierte sie sich auf die Obst- und Gemüseauslagen.
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