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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske
Autoren: Helene Henke
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ihren Ohren, übertönte den Radiosprecher. Sie hatte alle Fenster heruntergekurbelt. Warmer Wind erzeugte im Wageninnern einen Wirbelsturm, zerzauste ihr Haar, raubte ihr die Sicht. Entgegenkommende Fahrzeuge dürfte sie notfalls schon von weitem erkennen, doch sie hatte freie Fahrt. Ihre einzige Sorge bestand darin, möglicherweise ein über die Straße laufendes Kaninchen zu überfahren – oder ein größeres Tier.
    Zoes Blick flog immer wieder über die Hügellandschaft, die an ihr vorbeirauschte. Beinahe, als wollte sie das Unheil herbeirufen. Wenn ihr bei diesem Tempo tatsächlich etwas in die Quere kommen würde – ein Reh, das auf die Straße lief –, oder wenn sie einfach die Kontrolle über den Wagen verlieren würde … Sie würde sich überschlagen, bis der Wagen irgendwann wie eine zerbeulte Blechdose auf dem Feld zum Stillstand käme. Dann wäre alles vorbei. Keine Ängste mehr, keine Sorgen. Nur noch Frieden. Doch was, wenn sie schwer verletzt überlebte? Ein bewegungsunfähiger Pflegefall in der Obhut ihrer Mutter zu werden, war das Allerletzte, was sie wollte. Sterben war nicht so einfach. Leben aber auch nicht. Verfluchter Boris! Die Tatsache, dass Zoe ihn wiedergesehen hatte, brachte sie mehr auf als erwartet. Nachdem sie ihre Einkäufe erledigt und im Auto verstaut hatte, waren die Gefühle erneut in ihr hochgekocht. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihre Hand zitterte, als sie den Wagen startete. Obwohl sie sich bemühte, es nicht zu tun, zog es ihren Blick zwanghaft zum Rückspiegel. Der gelbe Sportwagen war verschwunden. Aber weit konnte er nicht sein. Es gelang ihr nicht einmal, sich einzureden, alles wäre nur Einbildung gewesen, zumindest so lange, bis sie ihm erneut begegnete. In einer Großstadt wäre die Wahrscheinlichkeit gering genug, um damit leben zu können. Im Hunsrück traf man garantiert jeden irgendwann wieder.
    Die Reifen knirschten auf dem Kiesbelag vor ihrer Einfahrt. Der Wagen kam mit stotterndem Motor zum Stehen, nachdem Zoe ihn abgewürgt hatte. Leise fluchend stieg sie aus, packte die Einkaufstüten und stapfte auf das Wohnhaus zu, das zugleich ihren Arbeitsplatz beherbergte. In der Ferne hörte sie die Glocken der kleinen Kapelle auf dem Hügel. Mutters Heimat.
    Mit dem Ellbogen drückte sie die Ladentür auf und wuchtete ihre Einkäufe in die Ecke, um die Last loszuwerden. Sie wollte die Sachen später in die Küche bringen. Normalerweise benutzte sie den Seiteneingang um die Ecke, doch vollgepackt war es bequemer, durch den Laden zu gehen. Meistens befand sich niemand in den Geschäftsräumen, heute jedoch schon. Erst nachdem sie zum dritten Mal wütend vor sich hin geschnaubt hatte, bemerkte Zoe ihre Mutter und eine Kundin, deren Gespräch verstummt war. Beide starrten zu ihr herüber. Auch das noch! Zoe seufzte und nickte zum Gruß. Die Kundin räusperte sich, während ihre Mutter schnell dazu überging, eine Seite im Vorsorgekatalog aufzuschlagen.
    »Zu den verschiedenen Möglichkeiten, einen Verblichenen für den Abschied am offenen Sarg herzurichten, kann Ihnen meine Tochter besser Auskunft geben. Sie ist die Spezialistin auf diesem Gebiet.« Ihre Mutter warf ihr einen auffordernden Blick zu, während die Kundin vornübergebeugt den Inhalt des Prospekts studierte.
    Zoe vollzog eine abwehrende Geste und blickte ihre Mutter scharf an. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Sie wusste genau, wie sehr Zoe Beratungsgespräche widerstrebten. Ihre Kunden waren die Toten. Mit den Vorstellungen der Lebenden konnte sie nicht viel anfangen. Die Kundin im Designerkostüm schien zu der Sorte Menschen zu gehören, die nichts dem Zufall überlassen wollten – besser gesagt, die dafür Sorge trugen, ihre Dekadenz über den Tod hinaus zu bewahren. Natürlich hatte Zoe Verständnis dafür, wenn Menschen ihre spätere Bestattung vorab festlegen wollten. Besonders für Alleinstehende oder jene, die fernab von Verwandten lebten, war es sinnvoll, sich zumindest mit den Vorsorgeinformationen auseinanderzusetzen. In Wahrheit taten es nur wenige – und wenn, dann kamen die Interessenten aus wohlhabenden Kreisen. Zoe gelang es nur selten, geschäftliche Interessen vor ihr persönliches Empfinden zu setzen. Außerdem wussten die meisten der gutbetuchten Kunden ihre Kunst nicht zu schätzen. Weder Zoes Fähigkeiten beim Make-up der Toten noch ihre handgefertigten Totenmasken schienen größeren Eindruck zu machen, während das Hauptaugenmerk auf den Preis gerichtet war: je
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