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Cassia & Ky – Die Flucht

Cassia & Ky – Die Flucht

Titel: Cassia & Ky – Die Flucht
Autoren: Ally Condie
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Kapitel 1 KY

    Ich stehe in einem Fluss. Er ist blau. Dunkelblau. Er reflektiert die Farbe des Abendhimmels.
    Ich bewege mich nicht. Aber der Fluss. Er bedrängt mich und raschelt im Ufergras. »Raus da!«, befiehlt der Wachmann auf der Böschung und richtet den Strahl seiner Taschenlampe auf uns.
    »Aber Sie haben doch gesagt, wir sollen die Leiche im Wasser versenken«, erwidere ich, als hätte ich den Wachmann falsch verstanden.
    »Ich habe nicht gesagt, dass Sie baden gehen sollen!«, blafft der Wachmann. »Lassen Sie ihn los, und kommen Sie raus. Aber ziehen Sie ihm vorher den Mantel aus. Den braucht er jetzt nicht mehr.«
    Ich blicke auf zu Vick, der mir mit der Leiche hilft. Vick setzt keinen Fuß ins Wasser. Er ist zwar nicht von hier, aber jeder im Lager kennt die Gerüchte über die vergifteten Flüsse der Äußeren Provinzen.
    »Alles in Ordnung«, flüstere ich Vick rasch zu. Die Wächter und Funktionäre wollen, dass wir uns vor diesem Fluss fürchten – vor allen Flüssen –, damit wir nicht auf die Idee kommen, aus ihnen zu trinken, oder versuchen, sie zu durchqueren.
    »Wollen Sie keine Gewebeprobe haben?«, rufe ich dem Wachmann zu, während Vick unschlüssig ein Stück entfernt vom Ufer stehenbleibt. Das eiskalte Wasser reicht mir bis zu den Knien. Der Kopf des toten Jungen hängt in einem unnatürlichen Winkel nach hinten, und seine offenen Augen starren in den Himmel. Die Toten sehen nichts – ganz im Gegensatz zu mir.
    Ich sehe zu viele Dinge. Das war schon immer so. Worte und Bilder verbinden sich auf seltsame Weise in meinem Kopf, und ich bemerke kleinste Details, wo immer ich auch bin. So auch jetzt. Vick ist kein Feigling, aber in diesem Moment erkenne ich die Maske der Angst auf seinem Gesicht. Die Arme des toten Jungen baumeln herunter, und die Fäden, die fransig von seinen Mantelärmeln hängen, schweben im Wasser. Seine dünnen Knöchel und die nackten Füße schimmern fahl in Vicks Händen, während er sich einen Schritt näher ans Ufer wagt. Wir mussten dem Jungen bereits die Stiefel ausziehen, und der Wachmann schwingt sie an den Schnürsenkeln hin und her wie ein schwarzes Pendel. Mit der anderen Hand richtet er den Lichtkegel der Taschenlampe genau auf meine Augen.
    Ich werfe dem Wachmann den Mantel zu. Er muss die Stiefel fallen lassen, um ihn aufzufangen. »Du kannst loslassen«, sage ich zu Vick. »Er ist nicht schwer, ich kann ihn allein tragen.«
    Aber Vick kommt zu mir ins Wasser. Die Beine des toten Jungen werden nass, und seine schwarze Zivilkleidung saugt sich voll. »Tolles Abschiedsbankett!«, ruft Vick dem Wachmann zu. Er klingt aufgebracht. »Hat er sich das Abendessen gestern ausgesucht? Wenn ja, geschieht es ihm recht, dass er tot ist.«
    So lange schon habe ich keine Wutgefühle mehr zugelassen, dass sie mich jetzt förmlich überwältigen. Sie füllen meinen Mund, aber ich schlucke sie hinunter, scharfkantig und metallisch, als beiße ich mich durch die Alufolienverpackung eines Essensbehälters. Der Junge musste sterben, weil die Wächter sich verrechnet haben. Sie haben ihm nicht genügend Wasser zu trinken gegeben, deswegen ist er zu früh gestorben.
    Wir müssen die Leiche unauffällig loswerden, weil in diesem Zwischenlager eigentlich niemand sterben dürfte. Damit müssen wir warten, bis man uns hinaus in die Dörfer schickt, wo der Feind uns erledigen wird. Aber nicht immer läuft alles wie geplant.
    Die Gesellschaft will, dass wir uns vor dem Sterben fürchten. Ich habe keine Angst davor. Nur davor, auf die falsche Weise zu sterben.
    »So enden Aberrationen«, erwidert der Wachmann ungeduldig und geht einen Schritt auf uns zu. »Das wissen Sie doch. Es gibt keine letzte Mahlzeit. Keine letzten Worte. Lassen Sie ihn los, und kommen Sie aus dem Fluss.«
    So enden Aberrationen.
Ich senke den Blick und sehe, dass das Wasser genauso schwarz geworden ist wie der Himmel. Noch lasse ich nicht los.
    Bürger enden mit letzten Mahlzeiten, letzten Worten und Gewebeproben, die aufbewahrt werden, um ihnen die Aussicht auf Unsterblichkeit zu bieten.
    Mit einer letzten Mahlzeit oder einer Gewebeprobe kann ich nicht dienen, aber Worte kann ich ihm schenken. Worte gibt es immer, und sie wandern zusammen mit Bildern und Zahlen durch meinen Kopf.
    Also flüstere ich ein paar, die zu dem Fluss und dem Tod passen:
    Hinaus aus unserem Quell von Zeit und Ort,
    Mag Flut mich weit hinweg geleiten,
    So hoffe ich, wenn ich die Barre überquert,
    Ihm, meinem Steuermann, ins
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