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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske
Autoren: Helene Henke
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Orangen thronten in vollendeter Form neben unebenen, krumm gewachsenen Äpfeln aus der Gegend und blieben dennoch exotisch und fremd. Sie griff nach einer Orange, roch daran und wog sie prüfend in der Hand.
    »Ich gehe nicht ins Pydna«, entgegnete sie beiläufig.
    Das war gelogen. Josh war ihr Freund, mit dem sie viele Gemeinsamkeiten verbanden. Sie hatten ähnliche Interessen, mochten einander und standen sich nahe wie Geschwister. Doch Zoe hatte auch ein eigenes Leben. Irgendwie musste sie schließlich mit ihren bösen Geistern zurechtkommen. Kleinen Brüdern erzählte man eben nicht alles, auch wenn man sie noch so gernhatte.
    Auf der ehemaligen Raketenstation bei Kastellaun fanden seit Jahren regelmäßig Festivals elektronischer Musik statt. Außerhalb des gutbesuchten Nature One Festivals boten die ansässigen Diskotheken mittlerweile jedes Wochenende genügend Unterhaltung für Feierlustige aus der ganzen Umgebung.
    Tatsächlich ging Zoe regelmäßig in die Großraumdisco Pydna, aber davon wusste niemand. Dort war sie nicht sie selbst, sondern eine völlig andere Person. Eine, die auf keinen Fall hierhergehörte, mitten am Tag vor dem Gemüseladen. Unauffällig sog Zoe tief die Luft ein und drängte mit einiger Mühe die aufkommende Aufregung hinunter. Ihr Blickfeld verengte sich kaum merklich. Sie blinzelte ein paarmal, um das Gefühl von sich ineinander vermischenden Realitäten loszuwerden.
    »Erzähl mir doch nicht …« Josh schnaubte ungläubig. »Jeder geht dorthin.«
    »Ich nicht.« Zoe packte ein paar Orangen in eine Papiertüte. Das entsprach sogar der Wahrheit. Im Pydna tanzte nicht die Zoe, die Josh kannte, sondern irgendjemand, der dort in eine andere Welt abtauchte. Aus seinem Leben hinaustrat, die alltägliche Hülle verließ, um eine neue Identität anzunehmen. Unter tausend Menschen allein sein. Zoe schüttelte den Kopf, um die bassigen Klänge des Raves aus ihren Ohren zu vertreiben. Dabei wedelte sie mit der Hand, um eine imaginäre Fliege zu verscheuchen, damit Josh nicht auffiel, wie sehr seine Frage sie aus dem Konzept brachte. Für einen Augenblick schien die Grenze verwischt, an der Zoe seit Jahren so sorgfältig arbeitete. Sie blinzelte gegen die Anspannung an, bis sie ebenso schnell von ihr abfiel, wie sie sich aufgebaut hatte. Der sonnige Vormittag vor dem Gemüseladen fühlte sich wieder so an, wie er sich anfühlen sollte.
    Josh blinzelte Zoe an und machte dabei nicht gerade den Eindruck, als glaubte er ihr. »Dann mach halt mal ’ne Ausnahme! Wir hätten bestimmt Spaß.«
    Da Zoe sich wieder gefangen hatte, blickte sie Josh an. »Du bist nicht volljährig. Es lohnt sich nicht, nach Kastellaun zu fahren, wenn man vor Mitternacht wieder abhauen muss.«
    »Du könntest für mich einen Erziehungsauftrag unterschreiben, dann darf ich die ganze Nacht bleiben.« Josh verschränkte selbstsicher seine Arme vor der Brust.
    Natürlich hatte er sich informiert, wie die meisten Minderjährigen es taten. Für eine Disconacht unternahmen sie beinahe alles. Notfalls wurden wildfremde Erwachsene vor dem Pydna angesprochen, damit sie die angebliche Aufsicht übernahmen. Meistens funktionierte es auch. War man erst einmal in die Diskothek gelassen worden, trennten sich die vermeintlich Zusammengehörigen, und jeder ging seines Weges. Über die möglichen Folgen, wenn ein Minderjähriger Probleme bekommen sollte, schien sich kaum jemand Gedanken zu machen. Zoe wurde regelmäßig von Jugendlichen angesprochen, doch sie unterschrieb gar nichts. Für Josh würde sie auch keine Ausnahme machen, wenn auch aus anderen Gründen. Sie hatte nicht vor, ihre Maskerade auffliegen zu lassen. Es genügte schon, dass sie im Pydna mit Sicherheit demnächst auf Boris Nauen treffen würde. Darauf musste sie sich erst einmal vorbereiten.
    »Vergiss es, Kleiner!«, erwiderte Zoe und betrat den Laden.
    »Hey, du bist auch nicht viel älter als ich!«, rief Josh ihr hinterher.
    Durch das Schaufenster sah Zoe noch, wie er vor sich hin fluchte, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand. Er würde sich schon wieder einkriegen.

    Für den Rückweg würde Zoe gerade einmal halb so viel Zeit benötigen wie für die Hinfahrt. Vor ihr erstreckte sich die gewundene Landstraße nach Birkheim wie eine Schlange im Wüstensand. In der Ferne lagen vereinzelte Baumgruppen als Vorboten auf die üppige Vegetation des Hunsrücker Waldes. Mit einhundertzwanzig Stundenkilometern raste sie über den unebenen Asphalt. Das Blut rauschte in
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