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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
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Panik.
    Den restlichen Tag verbrachte ich damit, Schachteln nach unten zu schleppen, wo sie in eine Wand eingemauert wurden, die eigens zu diesem Zweck eingerissen worden war. Während ich mir einen Weg durch Staub und Schutt suchte, weigerte ich mich standhaft, einen Gedanken daran zu verschwenden, wie hygienisch oder vielmehr unhygienisch wir arbeiteten, oder dass jedem Deutschen eine frisch gemauerte Wand auffallen musste. Die Entscheidung war gefallen, und wir eilten hin und her wie emsige Ameisen. Als ich das Krankenhaus verließ, war ich so müde, dass ich kaum mit dem Fahrrad nach Hause kam. Die Hitze lag immer noch über der Stadt. Rosasilbern strahlte die Sonne auf den Fluss. Die Menschen bummelten durch den warmen Abend, standen auf den Brücken und schauten ins Wasser oder zu den Hügeln hinauf, als wollten sie Abschied nehmen.
    Ich schlängelte mich durch den Oltrarno, wo ich unerwartet viele Menschen mit Karren und Schubkarren überholte, die mit weiß Gott was beladen waren. Über Nacht hatte die ganze Stadt zu wühlen und zu horten begonnen – das Konfiskationsfieber hatte uns gepackt. Sogar Papa hatte sich infiziert. Gestern Abend hatte er uns, nachdem Mama vom Tisch aufgestanden war, erklärt, dass er den Mechaniker kommen lassen würde, damit er die Räder vom Auto abmontierte. Es würde im Schuppen aufgebockt. Nach vorherrschender Meinung war das die einzige Möglichkeit, sein Auto zu behalten. Ich fragte mich, ob Massimo vielleicht ebenfalls gerade mit Abmontieren beschäftigt war. Insgeheim war ich der Meinung, dass die Deutschen eine ganze Stadt voller radloser Autos verdächtig finden mussten. Und mir kam der Gedanke, dass ich wahrscheinlich zu Fuß zu meiner Hochzeit gehen müsste, falls Lodo noch am Leben war und es schaffte, zur vereinbarten Zeit und Stunde aufzutauchen. Andererseits konnte ich mich auch auf die Lenkstange von Papas Fahrrad setzen.
    Ich kam bei der Santa Felicita heraus und sah, dass die Seitentore zu den Boboligärten offen standen. Halb war ich versucht, anzuhalten und hineinzugehen, weil ich sehen wollte, ob überall Menschen ihre Messer und Gabeln und Töpfe und Pfannen unter den Büschen und in den Grotten vergruben, so wie wir unsere kostbaren Vorräte in die Kellerwände eingemauert hatten. Aber ich war zu müde und zu erschöpft. Meine Uniform war staubig. In meinen Schuhen hatte sich Dreck angesammelt. Selbst meine Haarnadeln fühlten sich schmutzig an. Ich fuhr durch die Porta Romana hinaus. Dann ließen mich meine Beine im Stich. Am Fuß unseres Hügels stieg ich ab und schob mein Fahrrad Schritt um Schritt hinauf.
    Ich weiß nicht mehr, wieso ich auf dem Hügel anhielt und zu unserem Haus aufsah. Aber als ich es tat, war mir klar, dass sich etwas verändert hatte. Selbst hier, weit oben, wo oft ein leichter Wind wehte, war die Luft zum Ersticken. Die Hitze drückte mit breiter, wuchtiger Hand auf uns, und unser Haus schien im dichten Abendlicht zu flimmern wie eine Fata Morgana. Die ockerfarbenen Dachziegel wirkten weich, als würden sie schmelzen. Halb erwartete ich, lange, braunrote Schlieren auf dem ergrauenden Verputz zu sehen. Das Tor zur Einfahrt war geschlossen, und das war seltsam. Die riesige graugrüne Pinie dahinter, deren Äste sich dem Rasen entgegenneigten, schien leise zu schwanken, obwohl kein Luftzug zu spüren war.
    Im ersten Moment dachte ich, ich sei einfach erschöpft – so müde, dass ich die Welt um mich herum nicht mehr festhalten konnte, sondern tatenlos zusehen musste, wie sie zerschmolz. Dann merkte ich, dass mein Herz wie wild klopfte. Es hämmerte gegen meine Brust und bearbeitete die Rippen mit Fäusten, als wollte es sich freikämpfen.
    Beinahe hätte ich noch auf der Straße mein Rad fallen lassen. Als ich es endlich ans Tor geschafft hatte, hatte ich es so eilig, mit zitternden Fingern den Riegel zu öffnen, dass ich danach mein gegen die Steinsäule gelehntes Fahrrad stehen ließ und eher hörte als spürte, wie ich die Auffahrt hinauflief. Ich muss ziemlich wild ausgesehen haben, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund, als ich durch die Haustür platzte, ins Wohnzimmer gerannt kam und sie dort alle stehen sah: Mama, Papa, Issa und Enrico.
    Ich weiß nicht mehr, was ich sagte und ob ich überhaupt etwas sagte. Ich weiß nur noch, wie sich Ricos Arme anfühlten und dass sein Hemd nach Mottenkugeln und Seife roch. Ich weiß noch, dass er mich in die Luft hob und herumwirbelte, so wie früher, als wir noch Kinder waren und
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