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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
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Kindermädchen im Haus gegeben, das dann allerdings durch Emmelina ersetzt worden war. Bis vor nicht allzu langer Zeit hatten wir auch ein Hausmädchen gehabt, das bei uns gewohnt hatte. Nachdem inzwischen Enrico in der Armee, ich im Krankenhaus und Papa und Issa in der Universität waren, hatte sich die Phalanx von Menschen rund um meine Mutter deutlich gelichtet. Meistens war sie vormittags allein, bis Emmelina kurz vor dem Mittagessen erschien.
    Ich weiß nicht, ob ich sie damals für einsam hielt oder nicht, aber mir war aufgefallen, dass sie die Angewohnheit entwickelt hatte, mit den Fingerspitzen über unsere Möbel zu streichen, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, so als könnte sie wie in Brailleschrift ihre Geschichte lesen. Ein Tisch, der meinem Großonkel gehört hatte. Der Stuhl, in dem mein Großvater gesessen hatte, als er gestorben war. Ich stellte mir vor, dass sie, wenn wir morgens aufgebrochen waren, durch das viel zu große Haus schwebte, den Spuren der Geister nachging und Klavier spielte, während sie darauf wartete, dass der Tag allmählich in Gang kam.
    Meine Mutter war keine unfreundliche Frau; man konnte sie nicht einmal als »kalt« beschreiben. Sie hatte uns nur seit frühester Kindheit deutlich gezeigt, dass sie nur einen Menschen wirklich lieben konnte, und das war Enrico. Ich weiß nicht, was sie damit bei meinem Vater auslöste, abgesehen von einer vagen Traurigkeit, aber Issa schien vor ein paar Jahren entschieden zu haben, dass ihr das egal war. Ich hatte da weniger Glück, ich war nicht so geschickt darin wie meine Schwester, mich unempfindlich zu stellen. Ich griff nach der Decke, die zusammengefaltet am Fußende des Bettes lag, zog sie vorsichtig über meine Mutter und steckte sie leise über ihrer Schulter fest.
    Unten schlenderte ich ins Wohnzimmer, griff dort wieder zum Telefon und stellte mir dabei vor, dass ich Lodos Stimme daraus hören würde. Dass er mir befehlen würde, mein bestes Kleid anzuziehen, weil wir tanzen gehen würden. Oder sagen, dass er mich in einer halben Stunde abholen käme, um mit mir zu den Brücken zu gehen und die Lichter auf dem Fluss zu betrachten. Diesmal jedoch war nicht nur die Stimme verstummt, die mir einen Tanz oder Küsse im Dunkeln versprochen hätte, sondern selbst das beruhigende Summen oder Klicken. Aus der Leitung kam nichts. Nur Stille. Die Verbindungen waren abgeschnitten.
    Behutsam legte ich den Hörer zurück, denn plötzlich fürchtete ich mich davor, ein Geräusch zu machen. Durch die Glastüren sah ich die leere Terrasse und hinter der Balustrade die Stadt unten am Fluss liegen. In ihr Tal geduckt sah sie aus wie ein riesiges Tier, das den Atem anhielt.

    Ich schlief unruhig, hörte Isabella irgendwann nach Mitternacht durch den Flur schleichen und fuhr früh am nächsten Morgen mit dem Rad ins Krankenhaus. Trotz der zerhackten Träume – in denen ich Autolärm gehört und Lodovicos Stimme sich mit der meines Vaters und Massimos vermischt hatte – war ich froh, wieder in meiner Uniform zu sein und den neuen Tag angehen zu können. Ich radelte schnell und gestattete mir die Träumerei, dass die Deutschen beschließen könnten, einfach woandershin zu gehen. Oder dass die Alliierten schon heute in Ostia oder sogar Livorno landen und in wenigen Tagen statt der Deutschen den Lungarno entlangmarschieren würden, um Zigaretten und Käsekuchen zu verteilen.
    Es war eine angenehme, aber flüchtige Träumerei. Als ich ins Krankenhaus kam, herrschte auf der Station, der ich zugeteilt war, das reine Tohuwabohu. Auch in ruhigen Zeiten gab es Wichtigeres zu tun, als die Jungkrankenschwestern einzuweisen, und heute brauchte ich fast eine halbe Stunde, bis ich jemanden so lange festhalten konnte, dass er mir erzählte, was eigentlich los war.
    Irgendwann im Lauf der Nacht war beschlossen worden, ein Verzeichnis des kompletten Inventars zu erstellen – von Geräten, Medikamenten, Bettwäsche – und dann so viel wie möglich davon im Keller, auf der Isolierstation und sogar in der Pathologie zu verstauen und zu verstecken. Es ging das Gerücht um, dass die Deutschen, nachdem sie in Bologna und Verona einmarschiert waren, sämtliche Krankenhausvorräte konfisziert und zu ihren eigenen Ärzten an die Front geschickt hätten. Noch hingen keine Hakenkreuze vor dem Palazzo Vecchio, aber der Direktor glaubte, dass uns höchstens noch zwölf Stunden blieben. Nachdem der gestrige Tag in ängstlichem Abwarten vertrödelt worden war, herrschte jetzt
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