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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste
Autoren: Lucretia Grindle
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über die Marine gehört habe.«
    Mein Blick tastete sein Gesicht ab, doch meine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an das Dunkel gewöhnt und die vertrauten Konturen seiner geraden Nase, seines Kinns und der hohen Wangenknochen erfasst hatten, die meinen Zügen so ähnlich waren. Ich wusste, dass seine Augen genauso dunkelblau waren wie meine und Issas, aber ich konnte sie nicht erkennen, konnte die Botschaft nicht lesen, die sie für mich bereithielten.
    Enrico und ich hatten uns kaum gesehen, seit ich die Ausbildung zur Krankenschwester begonnen hatte und er eingezogen worden war. Erst hier im Garten begriff ich, wie viel Angst ich gehabt hatte, er könne tot sein, und dass ich das erst gemerkt hatte, als ich ins Wohnzimmer gestürmt war und ihn dort hatte stehen sehen; als er mich hochgehoben und herumgewirbelt hatte. Und erst jetzt ahnte ich, wie sehr ich mich danach gesehnt hatte, dass er heimkehrte. Er war immer unser Anführer gewesen, schon während unserer Kinderzeit. Als Erwachsene hatten wir die gleichen Hände, die gleichen geschwungenen Brauen, das gleiche Stirnrunzeln. Doch obwohl wir uns so ähnlich sahen und obwohl uns nur zwei Jahre trennten, war mein Bruder Issa immer näher gewesen als mir. Sie waren seelenverwandt und liebten es genau wie Papa, im Freien zu sein.
    »Hast du etwas gehört?«, fragte er. »Von Lodo?«
    Ich schüttelte den Kopf, weil mir plötzlich die Stimme versagte.
    »Komm.« Enrico nahm mich an der Schulter. »Lass uns ein Stück gehen.«
    Wir stiegen langsam neben dem Haus hügelan, unter dem Balkon vorbei und weg von der Terrasse.
    »Ich weiß nichts Genaues.« Seine Stimme war nur noch ein Murmeln, und die Worte mischten sich unter unsere leisen Schritte im Gras. »Aber wir haben gehört, dass die meisten Schiffe Malta erreicht haben. Sie hatten sofort kehrtgemacht, als der Waffenstillstand erklärt wurde. Dort wollen sie sich unter das Kommando der Alliierten stellen. Wahrscheinlich ist er auch dabei.«
    Er blieb stehen. Wir standen unter den tief hängenden Ästen der großen Pinie. Als Kinder hatten wir uns dort oft versteckt. Selbst nach der drückenden Hitze, die sich tagsüber aufgestaut hatte, war der Boden dort feucht und kühl und roch nach Moos und Piniennadeln.
    »Wie geht es Mama?«
    Er sah mich nicht an, als er das fragte.
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Wie immer.«
    Etwas schwebte zwischen uns, ohne dass wir es aussprechen mussten. Mein Bruder hatte nie etwas Entsprechendes gesagt, aber ich wusste, dass er die Liebe unserer Mutter bisweilen als Bürde empfand, so als müsste er sie für alle drei Kinder alleine schultern.
    »Praktisch alle Verbindungen sind abgeschnitten«, sagte er gleich darauf. »Überall. Rom ist völlig abgeriegelt. Und der ganze Süden dazu. Wenn Lodo sich nicht meldet, dann nicht, weil er es nicht will.« Er sah mich an. »Oder weil er tot ist«, ergänzte er. »Das darfst du nicht denken.«
    Trotz der Geschichten, die ich mir selbst erzählte, dachte ich genau das.
    »Uns steht Schlimmes bevor«, sagte Enrico plötzlich. »Überall. Die Fascistoni werden zurückkommen. Die Deutschen werden sie wieder in ihre Ämter einsetzen, damit es so aussieht, als gäbe es wenigstens etwas Unterstützung für ihre Besetzung, und sie werden sich rächen wollen. Sie waren eingesperrt. Wurden gedemütigt. Sie werden es ihren Feinden vergelten wollen. Und dazu zählen wir praktisch alle.«
    »Aber die Alliierten …«, platzte es aus mir heraus. »Die nächste Landung. Bestimmt …«
    Enrico schüttelte den Kopf. »Zu der wird es nicht kommen, Cati. Zu einer zweiten Landung. Soweit wir gehört haben, haben sie schon in Salerno einen schweren Stand. Die Deutschen kämpfen wie besessen. Sie müssen. Das ist ihre einzige Chance. Nur darum hat Hitler Kesselring geschickt. Sie werden nicht aufgeben. Das können sie nicht.«
    Die Nachglut des Weines verwehte wie Rauch. Stattdessen breitete sich in mir eine kränkliche Leere aus, als würde alles in mir erkalten und vertrocknen.
    »Was wollt ihr jetzt machen? Du und Carlo?« Die Frage kam nur als Flüstern über meine Lippen.
    »Du darfst niemandem davon erzählen. Ich meine niemandem außerhalb der Familie. Egal wem.«
    »Emmelina, meinst du«, wollte ich ihn anfahren, aber etwas hielt mich davon ab. Ich spürte eher, als dass ich sah, wie Rico die Stirn runzelte. Sein Tonfall war derselbe wie damals, als er mich schwören ließ, kein Wort über die Schleuder zu verlieren, mit der er ein
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