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Die Toten befehlen

Titel: Die Toten befehlen
Autoren: Vincente Blasco Ibañez
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Menschheit kein anderes Ziel, als sich selbst zu täuschen?
    Plötzlich verschwand das Rad, und vor Jaime tauchte ein hiesiger, bläulicher Globus mit Meeren und Kontinenten auf. Es war die Erde. Auch sie rotierte mit trostloser Monotonie. Aber diese Drehung bedeutete nichts im Vergleich zu der Weiterbewegung, durch die die Erde auf eine ewige Reise in den unendlichen Raum fortgerissen wurde, ohne jemals denselben Punkt zu berühren.
    Nicht das verfluchte Rad war das wahre Bild desLebens, sondern die Erde. Innerhalb eines bestimmten Zeitraumes drehte sie sich um sich selbst. Die Tage und die Jahreszeiten wiederholten sich, wie in der Geschichte der Menschheit die Größe und der Verfall. Aber es gab noch etwas Höheres: die Fortbewegung der Erde in die Unendlichkeit. Und ihr entsprach die Entwicklung der Menschheit, der Fortschritt, der sie vorwärts riß, immer vorwärts! Die Theorie der ewigen Wiederholung war falsch. Die äußere Form konnte ähnlich sein, die Seele war verschieden.
    Nein, fort mit dem Rad! Fort mit der Unbeweglichkeit! Die Toten konnten nicht befehlen. Die Fortbewegung der Erde war zu schnell, als daß sie sich an ihrer Oberfläche halten konnten. Es mochte ihnen viele Jahre, sogar Jahrhunderte gelingen, aber einmal kam der Moment, in dem sie sich lösen mußten, um in dem Nichts unterzugehen.
    Ein letzter Zweifel stieg in ihm auf. Die Fortbewegung der Erde war auch nur ein ewiges Kreisen um die Sonne. Aber stand denn die Sonne still? Nein! Mit ihrem ganzen Planetensystem bewegte sie sich weiter im unendlichen Raum.
    Wie dem Apostel Paulus auf dem Wege nach Damaskus fielen ihm die Schuppen von den Augen. Er sah ein neues Licht. Der Mensch war frei. Er konnte sich dem Griff der Toten entziehen, sein Leben seinen Wünschen entsprechend formen und die Sklavenkette zerreißen, die ihn an diese unsichtbaren Despoten schmiedete.
    Er hörte auf zu träumen und versenkte sich in das Nichts mit der stummen, tiefen Freude des Arbeiters, der von einem nutzbringenden Tagewerke ausruht.
    Als er nach langer Zeit erwachte, sah er in dieAugen von Pablo Valls, der seine Hände ergriffen hatte und ihn zärtlich anblickte.
    Jaime konnte nicht mehr zweifeln. Was er sah, war Wirklichkeit. Er nahm den von Don Pablo untrennbaren Geruch des englischen, leicht mit Opium parfümierten Tabaks wahr.
    »Endlich, mein lieber Junge!« rief Don Pablot aus. »Jetzt geht es vorwärts, nicht wahr? Du hast kein Fieber mehr, und damit ist die Gefahr überstanden. Die Wunden heilen ausgezeichnet. Sie müssen jucken wie tausend Teufel, als ob man dir Wespen unter den Verband gesetzt hätte. Das ist immer so, wenn sich neues Fleisch bildet.«
    Und da der Kapitän die vielen Fragen erriet, die in Jaimes erstaunten Augen lagen, fuhr er fort:
    »Sprich nicht, das ermüdet dich nur. Wie lange Zeit ich schon hier bin? Fast zwei Wochen. Ich las in den Zeitungen von Palma, was dir zugestoßen war, und bin sofort hierhergekommen. Dein Freund, der Chueta, bleibt sich immer gleich. Aber eine böse Zeit haben wir mit dir durchgemacht. Du hattest eine schwere Lungenentzündung, mein Sohn. Wenn du die Augen aufmachtest, erkanntest du mich nicht. Fast immer lagst du im Delirium. Gut, daß das alles vorbei ist. Wir haben uns auch redliche Mühe mit dir gegeben ... Schau her, wer hier ist!«
    Bei diesen Worten trat er vom Bett zurück, damit Jaime Margalida sehen konnte, die sich hinter dem Kapitän versteckt hatte. Jetzt, wo Jaime sie mit fieberfreien Augen ansah, war sie wieder scheu und zurückhaltend.
    »Mandelblüte ...!«
    Jaimes liebevoller Blick ließ sie erröten. Sie befürchtete,er könnte sich erinnern, was in den kritischen Momenten geschehen war, als man an seinem Wiederaufkommen zweifelte und stündlich das Schlimmste erwartete.
    »Jetzt verhältst du dich aber ruhig«, fuhr Valls fort. »Ich bleibe hier, bis wir zusammen nach Palma zurückkehren können. Ich weiß alles ... ich werde alles regeln. Du kennst mich doch, ja? Habe ich mich klar ausgedrückt?«
    Der Chueta zwinkerte mit einem Auge und lächelte verschmitzt, überzeugt, daß er die Wünsche seines Freundes erraten hatte.
    Braver Kapitän! Seit er in Can Mallorqui angekommen war, folgten alle seinen Anordnungen. Jeder bewunderte ihn und war ihm wegen seiner immer guten Laune herzlich zugetan.
    Margalida errötete schamhaft bei seinen Anspielungen, aber sie hing an ihm, weil sie wußte, daß er für Jaime jedes Opfer bringen konnte. Sie erinnerte sich der Nacht, als man
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