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Die Toten befehlen

Titel: Die Toten befehlen
Autoren: Vincente Blasco Ibañez
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Halbkreis angeordneten Bänken und darauf Hunderte von Männern, dieredeten, eiferten und gestikulierten bei der geräuschvollen Arbeit, Gesetze zu machen. Aber hinter ihnen verbargen sich die wirklichen Gesetzgeber, die Toten, die Abgeordneten im Schweißtuch, deren Anwesenheit diese Männer nicht ahnten, die mit großsprecherischer Eitelkeit glaubten, aus eigener Eingebung zu reden. Die Toten sind die Gesetzgeber! Bei Streit und Zweifel genügte es, wenn jemand daran erinnerte, wie sie in früheren Zeiten gedacht und gehandelt hatten, und alle Meinungsverschiedenheiten verschwanden. Die Toten waren die einzige, ewige und unwandelbare Wirklichkeit, die Menschen von Fleisch und Blut nur eine vorübergehende Erscheinung, ein nichts bedeutendes, von eitlem Hochmut erfülltes Bläschen.
    Zu den Füßen der großen Denkmäler, der Gemälde in den Museen und der Bücherreihen in den Bibliotheken sah er das stumme Lächeln der Totenschädel, das den Menschen zu sagen schien:
    »Bewundert uns! Dieses ist unser Werk, und was ihr auch immer tun werdet, stets müßt ihr unseren Bahnen folgen.«
    Sogar die Liebe war dieser Sklaverei verfallen. Die Frau glaubte an das Spontane ihrer Scham und ihrer Erregung, ahmte aber nur, ohne es zu wissen, ihre Vorfahren nach, die je nach der Epoche Verführerinnen mit heuchlerischer Bescheidenheit oder freimütige Messalinen gewesen waren.
    Dieses Heer von Toten, diese unzählbaren Millionen bedrückten Febrer. Nirgends fand er einen Platz, wohin er seinen Fuß setzen konnte, denn reihenweise standen sie übereinander. Unerträglich lasteten sie auf seiner Brust und erstickten ihn. Er ging unter in diesem weißen, knirschenden Knochenmeer. In seinerVerzweiflung ergriff er eine Hand, die von weither aus dem Dunkel zu kommen schien, eine Hand von Fleisch und Blut. Er hielt sich an ihr fest, zog sie zu sich heran. Ein bleicher Fleck tauchte auf, kam näher und nahm die Form eines menschlichen Gesichtes an. Und er erkannte Pablo Valls, der sich über ihn beugte und die Lippen bewegte, als murmelte er zärtliche Worte, die Jaime nicht verstehen konnte.
    Nach dieser rapiden Vision fiel der Kranke noch einmal in seine Bewußtlosigkeit zurück. Der Durst, dieser schreckliche Durst ließ nach. Er hatte klare muntere Gebirgsbäche und schweigsam dahinfließende breite Ströme gesehen, aber sich vergebens bemüht, sie zu erreichen, da seine Beine in schmerzhafter Unbeweglichkeit verharrten. Jetzt erschien ihm ein leuchtender, schäumender Wasserfall, und es gelang ihm, sich ihm zu nahem. Bei jedem Schritte fühlte er mehr und mehr auf seinem Gesichte die Wohltat der erfrischenden Feuchtigkeit.
    Mitten in dem Getöse der Kaskade vernahm er leise Stimmen. Jemand sagte: »Das Fieber ist gebrochen« und eine andere Stimme antwortete fröhlich: »Gott sei Dank, er ist gerettet.« Der Kranke erkannte sie. Es war die Stimme von Pablo Valls. Seltsam, daß der Kapitän immer wieder auftauchte.
    Von der Kühle des Wassers angezogen, ging Febrer näher und setzte sich unter den rauschenden Fall. Er empfand wollüstige Schauer, als der erquickende Wasserstrahl auf seinen Rücken stürzte. Seine Glieder streckten sich, und die Brust wurde ihm leicht, denn der Druck, der ihn bis vor kurzem gequält hatte, wich langsam. Die Nebel in seinem Gehirn zerteilten sich. Allmählich verwandelten sich die Schreckensszenen infriedliche Träume. Er sah einen rosigen Himmel und hörte ferne Musik. Die Atmosphäre war erfüllt von einer geheimnisvollen, lächelnden, übernatürlichen Kraft, die alles, was mit ihr in Berührung kam, verschönte. Es war die wiederkehrende Gesundheit.
    Das unaufhörlich herabstürzende Wasser, das im Fall einen leichten Bogen beschrieb, ließ die früheren Vorstellungen neu aufleben. Wieder sah er das ungeheure Rad, das Bild der Menschheit. Durch das kühle Wasser gestärkt, glaubte er, sich jetzt besser über alles klar werden zu können.
    Rückte das Rad wirklich nicht von der Stelle? Der Zweifel, der den Anfang neuer Wahrheiten bedeutet, ließ ihn mit größerer Aufmerksamkeit zuschauen. Hatten ihn seine Augen getäuscht? War er vielleicht im Irrtum und glaubten die jubelnden Millionen auf dem Rade mit Recht, bei jeder Drehung einen neuen Fortschritt erzielt zu haben? Welche Grausamkeit, wenn das Leben sich durch Hunderttausende von Jahren in dieser trügerischen Bewegung abwickeln sollte, die in Wirklichkeit eine Unbeweglichkeit verbarg! Wo wäre dann der Zweck der ganzen Schöpfung? Hatte die
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