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An Paris hat niemand gedacht

An Paris hat niemand gedacht

Titel: An Paris hat niemand gedacht
Autoren: Veronika Peters
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I
Liederhaus

    I m Hinterland der Elfenbeinküste, dort, zwischen den Strömen Nzi und Bandama, wo die Savanne von Norden her wie ein breiter Keil in den südlichen Urwald stößt, liegt das Land der schwarzen Königin Aura Poku – das Land der Baule. Es ist ein offenes Grasland mit Flecken und Strichen von Wald an den zahlreichen Wasserläufen, mit Palmen auf den weiten grasigen Flächen, ein Land von großer Lieblichkeit.

    Das Geräusch einer zirpenden Grille übertönt beinahe die Stimme der Frau, deren Gesicht vom Schein der Nachttischlampe beleuchtet wird.

    Aura Poku war die Älteste der Königskinder von Kumassi. Doch ihr Bruder und die meisten Männer des Stammes wollten keiner Frau untertan sein und jagten sie aus dem Land.
    Da floh die Königstochter mit ihren Getreuen nach Sonnenuntergang durch die Savanne bis tief in den Wald hinein, wo sie vom Fluss Comoe aufgehalten wurden.
    Komie Nassi, der Hofzauberer, sollte einen Weg finden, wie der reißende Strom überschritten werden könne, und er befragte die heiligen Mäuse. Von diesen brachte er die Botschaft:
    »Einer unter euch muss seinen einzigen Sohn dem Fluss zum Opfer bringen, dann wird er euch hinüberlassen, so dass ihr in Sicherheit seid.«

    Da aber niemand sein Kind hergeben wollte, nahm Aura Poku ihr eigenes, schmückte seinen Körper mit Gold und warf es in die Fluten. Sofort erhob sich ein riesiger Fels aus dem Wasser, auf dem die Flüchtlinge in das jenseitige Land ziehen konnten.
    Weil aber das Volk einem Kind sein Leben verdankte, gab die Königin ihm den Namen »Ba Ule«, das heißt »Volk des Kindes«.

    Die Mutter klappt das Buch zu, streift beim Aufstehen das Moskitonetz und verlässt das Zimmer. Durch den Spalt unter der Tür sehen sie das Licht im Flur verlöschen, hören das klackende Geräusch der sich schließenden Flügeltür, die ihr Schlafzimmer im hinteren Teil des Hauses von den anderen Räumen trennt.
    Das ist ihr Zeichen.
    Zwei kleine Mädchen im Dunkeln. Eins zieht die Decke bis an die Nasenspitze, ruft: »Fang an!«
    Das andere saugt hörbar die Luft ein, beginnt zu singen.
    Merkwürdige kleine Melodiebögen, wie Wellen, die einer rätselhaften Choreographie folgend ihre Linien in den Sand malen. Ein langsamer Tanz, nicht viel mehr als ein leichtes Hin-und Herschwingen, aus dem allmählich eine Geschichte aufsteigt.
    Jeden Abend das gleiche Thema in allen erdenklichen Variationen.
    Zunächst müssen die Eltern zum Verschwinden gebracht werden, das Repertoire der Todesarten wird beständig erweitert: Zugunglücke, Autounfälle, Flugzeugkatastrophen, Bisse des Skorpions, Löwenpranken, Entführung. Letzteres findet nur selten Verwendung. Entführte können zurückkommen. Man muss sie mindestens in eine dunkle, unzugängliche Höhle verschleppen lassen, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Oder nach
Paraguay. Paraguay hört sich sehr weit entfernt an. Aber tot ist am besten; tot bedeutet richtig weg.
    Dann können die Mädchen Waisen sein und gemeinsam losziehen: mit den Hunden, mit wilden Pferden, die sich nur von ihnen reiten lassen, manchmal mit dem Zug oder mit dem Auto des Vaters. Beine, die zu kurz sind, um das Gaspedal zu erreichen, gibt es nicht.
    Sie wohnen monatelang auf einem Floß, das den Bandama hinuntertreibt, ernähren sich von selbst gefangenen Fischen, erschlagen Krokodile, deren Häute sie später auf dem Markt zu Geld machen.
    Sie durchqueren die Wüste auf schwarzen Araberhengsten, lernen die Sprache der Tiere, finden Aufnahme in Hyänenrudeln und Gepardenfamilien. In Abidjan geraten sie zwischen kämpfende Gangsterbanden, nutzen den Tumult, um die Beute an sich zu bringen und reich zu sein. Viehhüter werden sie, Rennfahrerinnen, Baumwollpflücker, Baoulé-Kriegerinnen. Sie rauben eine Bank aus, versenken ein Polizeischiff im Golf von Guinea, wandern mit Wildhunden und Gnus durch die Serengeti.
    Kein Mensch kann sie einfangen, kein Feind holt sie ein.
    Und niemand wagt es, in keiner einzigen Geschichte: sie werden nie geschlagen.
    Das Ende ist immer gleich, eine helle Sommermelodie: Die Mädchen wohnen in einem großen Haus mit Veranda, von der aus man das Meer sehen kann. Es hat blaue Fensterläden, die im Wind klappern, und rundum wachsen dichte Hecken von Wildrosen: weiße, rote, gelbe. Da ist kein Durchkommen, wenn man den Geheimgang nicht kennt. Viel Platz haben sie für sich und die Tiere, und lustig ist es und friedlich, und niemand schreit sie an.
    Königin Aura Poku kommt zu Besuch, trinkt
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