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Die Tote ohne Namen

Die Tote ohne Namen

Titel: Die Tote ohne Namen
Autoren: Patricia Cornwell
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jemand die Tür zur Damentoilette schloß. Der rote Code auf dem Bildschirm war schon fast in der Station. Er bewegte sich auf einem schmalen Steg und würde jeden Augenblick auf dem Bahnsteig ankommen. Ich sah mich nach meiner Browning um. Sie war nicht mehr da.
    »Sie hat meine Pistole mitgenommen«, sagte ich erstaunt. »Sie ist rausgegangen. Sie ist hinter Carrie her.«
    Wir luden so schnell wie möglich die Gewehre, nahmen uns aber nicht die Zeit, die kugelsicheren Westen anzuziehen. Meine Hände waren kalt und steif.
    »Sie müssen Wesley Bescheid sagen«, sagte ich hektisch. «Sie müssen irgendwas unternehmen, um sie herzuholen.«
    »Sie können nicht allein rausgehen«, erwiderte Commander Penn.
    »Ich kann Lucy da draußen nicht allein lassen.«
    »Wir gehen zusammen. Hier. Nehmen Sie eine Taschenlampe. «
    »Nein. Holen Sie Hilfe. Holen Sie sie her.«
    Ich griff nach der Taschenlampe und lief hinaus, ohne zu wissen, was mich erwartete. Aber die Station war menschenleer. Ich stand vollkommen reglos da, das Gewehr im Anschlag. Ich sah die Kamera, die an der grün gekachelten Wand neben der Toilettentür angebracht war. Der Bahnsteig war leer, und ich hörte, wie sich ein Zug näherte. Er raste vorbei, weil er an einem Samstag hier nicht halten mußte. Durch die Fenster sah ich Menschen, die dösten oder lasen. Nur wenige schienen die Frau mit dem Gewehr überhaupt zu bemerken oder sich gar über sie zu wundern.
    Ich fragte mich, ob Lucy in der Toilette war, aber das kam mir unwahrscheinlich vor. Neben dem Kontrollraum, in dem wir uns seit Stunden aufhielten, war eine Toilette. Ich machte ein paar Schritte auf den Bahnsteig zu, mein Herz hämmerte. Es war eiskalt, und ich hatte meinen Mantel nicht an. Meine Finger um den Gewehrlauf wurden noch steifer.
    Mir kam der Gedanke, daß Lucy vielleicht Hilfe holte, und einen Moment lang war ich erleichtert. Vielleicht hatte sie die Tür zur Toilette zugestoßen und war in Richtung Second Avenue gelaufen. Aber was, wenn sie das nic ht getan hatte? Ich starrte auf die Tür und wollte nicht durch sie hindurchgehen.
    Langsam, Schritt für Schritt ging ich darauf zu und wünschte, ich hätte eine Pistole. In engen Räumen und wenn man um Ecken biegen muß, nützt einem ein Gewehr herzlich wenig. Als ich direkt vor der Tür stand, schlug mir das Herz bis zum Hals. Ich langte nach dem Türgriff, drückte ihn mit aller Kraft nach unten und stürmte in die Toilette. Niemand war an den Waschbecken. Es war totenstill. Ich sah unter die Kabinentüren und hörte auf zu atmen, als ich blaue Hosenbeine und braune Arbeitsstiefel aus Leder sah, die für eine Frau zu groß waren. Metall klimperte.
    Ich zielte mit dem Gewehr, zitterte und rief: »Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«
    Ein großer Schraubenschlüssel fiel krachend zu Boden. Der Mann in Overall und Kittel sah aus, als erlitte er jeden Augenblick einen Herzinfarkt, während er aus der Kabine kam.
    Seine Augen traten aus den Höhlen, als er mich und mein Gewehr anstarrte.
    »Ich repariere nur die Toilette. Ich hab kein Geld«, sagte er entsetzt. Er hatte die Arme hochgerissen, als jubelte er gerade über einen Touchdown.
    »Sie sind hier mitten in einer Polizeiaktion!« rief ich, richtete den Gewehrlauf zur Decke und sicherte die Waffe. »Machen Sie, daß Sie hier rauskommen!«
    Er ließ es sich nicht zweimal sagen. Er sammelte nicht einmal sein Werkzeug ein und schloß die Kabine nicht ab. Er lief die Treppe zur Straße hinauf, während ich wieder auf den Bahnsteig hinaustrat. Ich blickte zu den vier Kameras und fragte mich, ob Commander Penn mich auf den Bildschirmen sah. Ich wollte zurück in den Kontrollraum, als ich im Tunnel Stimmen zu hören glaubte. Plötzlich schien es ein Handgemenge zu geben, und ich hörte ein Ächzen. Lucy begann zu schreien.
    »Nein! Nein! Nicht!«
    Dann knallte es, als würde etwas in einer Blechtonne explodieren. Funken sprühten in der Dunkelheit des Tunnels, und die Lichter in der Bleecker Street-Station flackerten.
    Im Tunnel brannte kein Licht, und ich konnte nichts erkennen, weil ich es nicht wagte, die Taschenlampe in meiner Hand anzuschalten. Ich tastete mich zu einem Metallsteg vor und stieg vorsichtig die schmalen Stufen in den Tunnel hinunter.
    Während ich mich Zentimeter um Zentimeter vorantastete, gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich atmete schnell und flach, sah kaum die Durchgänge, die Schienen und die Betonflächen, auf denen die Obdachlosen ihre Lager
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