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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
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wurden, dessen geöffneter Körper all seine Geheimnisse bloßlegte, war er weniger angespannt gewesen. Auch an seinem Hochzeitstag, als die Familie seiner Frau in der Kirche die eine Seite der Sitzreihen vollkommen ausfüllte und auf der anderen Seite nur eine Handvoll seiner Kollegen saßen – seine Eltern und die Schwester waren bereits tot –, hatte er nicht so viel Angst wie jetzt verspürt.
    Auf dem Parkplatz des Klinikgeländes stand nur ein einziges Auto: der blaßblaue Fairline der Krankenschwester, ein gediegener, praktischer Wagen, der neuer als sein eigener war. Kurz nachdem er seinen Kollegen informiert hatte, hatte er auch sie angerufen. Nun, da sie das Büro sicher erreicht hatten, waren sie beide in Hochstimmung und lachten, als sie sich ins grelle Licht des Wartezimmers drängten.
    Dort trafen sie auf die Schwester. Ihre großen blauen Augen saßen in einem blassen Gesicht, das keinen Aufschluß über ihr Alter gab. Sie konnte vierzig, aber auch nur fünfundzwanzig Jahre alt sein. Als er sie sah, wußte er sofort, daß etwas |19| schiefgelaufen war, denn wenn ihr etwas gegen den Strich ging, bildete sich auf ihrer Stirn, genau zwischen den Augen, eine dünne, steile Falte. Auch jetzt, als sie von Bentley berichtete, konnte man sie sehen. Das Auto des Geburtshelfers war auf der noch ungeräumten Landstraße in der Nähe seines Hauses ausgeschert, hatte sich auf dem schneebedeckten Eis zweimal um die eigene Achse gedreht und war in einen Graben geschlittert.
    »Heißt das, Dr. Bentley wird nicht kommen?« fragte seine Frau ängstlich. Die Schwester schüttelte den Kopf. Sie war groß, dünn und so kantig, daß es schien, als ob ihre Knochen jeden Moment durch die Haut stoßen würden. Ihre riesigen blauen Augen blickten ernst und intelligent. In der Klinik erzählte man sich, daß sie ein bißchen in ihn verliebt sei, und man witzelte darüber. Er hatte die Gerüchte monatelang ignoriert und als müßiges Bürogeschwätz abgetan, das zwangsläufig aufkommen mußte, wenn ein Mann und eine ledige Frau täglich so eng zusammenarbeiteten. Aber eines Tages war er über seinem Schreibtisch eingeschlafen. Er hatte geträumt, daß seine Mutter Gläser mit eingemachten Früchten auf das Wachstuch des Tisches unter dem Fenster stellte. Sie glänzten wie Juwelen. Seine fünfjährige Schwester saß dabei und hielt eine Puppe in der Hand, die sie vergessen zu haben schien. Das flüchtige Bild aus Kindheitstagen erfüllte ihn sowohl mit Trauer als auch mit Sehnsucht. Zwar gehörte das Elternhaus ihm, aber es stand leer, seit seine Schwester gestorben war und seine Eltern weggezogen waren. Die Zimmer, die seine Mutter früher geschrubbt hatte, bis sie matt glänzten, waren nun verkommen und nur noch vom Rascheln der Eichhörnchen und Mäuse erfüllt.
    Als er seine Augen aufschlug, waren sie tränennaß. Die Schwester stand im Türrahmen, und ihr Gesicht hatte einen zärtlichen Ausdruck. In diesem Augenblick, mit einem angedeuteten Lächeln auf den Lippen, war sie wunderschön, eine ganz andere Frau als die effiziente Arzthelferin, die jeden Tag |20| so ruhig und kompetent an seiner Seite arbeitete. Ihre Augen trafen sich, und plötzlich kam es ihm so vor, als würde er sie – als würden sie beide sich auf eine tiefe und vertraute Art und Weise kennen. Es gab nichts, was in diesem Moment zwischen ihnen stand, und ihre Vertrautheit war so groß, daß er reglos erstarrte. Da errötete sie heftig und wandte ihren Blick ab. Sie räusperte sich, richtete sich auf und erklärte, daß sie jetzt gehe, da sie bereits zwei Überstunden gemacht habe. Daraufhin vermied sie es viele Tage lang, ihn direkt anzusehen.
    Nach diesem Erlebnis unterbrach er seine Kollegen, wenn sie ihn mit ihr aufzogen. »Sie ist eine sehr gute Schwester«, winkte er dann ab und fügte, an den Moment ihrer tiefen Verbundenheit denkend, hinzu: »die beste, mit der ich je gearbeitet habe.« Das entsprach der Wahrheit, und in dieser Nacht war er sehr froh, sie bei sich zu haben.
    »Was ist mit der Unfallstation?« fragte sie. »Können wir es dorthin schaffen?« Der Arzt schüttelte den Kopf. Die Wehen kamen nun schon im Minutentakt.
    »Dieses Baby will nicht warten«, antwortete er mit einem Blick auf seine Frau. Schnee war in ihrem Haar geschmolzen und funkelte wie ein Diadem aus Diamanten. »Es hat sich schon auf den Weg gemacht.«
    »Ist schon in Ordnung«, erklärte seine Frau stoisch. Ihre Stimme war jetzt härter und entschiedener. »Das gibt
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