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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
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eine Geschichte, die man ihm noch erzählen kann, wenn er groß ist. Ihm oder ihr«, verbesserte sie sich.
    Die Schwester lächelte. Die Falte auf ihrer Stirn war nur noch schwach zu sehen. »Dann bringen wir Sie mal rein und tun etwas gegen Ihre Schmerzen«, schlug sie vor.
    Er ging in sein Büro, um einen Kittel zu holen, und als er Bentleys Untersuchungszimmer betrat, lag seine Frau bereits mit angewinkelten und in Bügeln steckenden Beinen auf dem Bett. Der Raum war blaßblau, überall blitzten Chrom, weißes Email und feine Instrumente aus schimmerndem Stahl. Der |21| Arzt trat zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Er war äußerst wachsam. Nicht das kleinste Detail entging ihm, und als er dieses alltägliche Ritual vollzog, begann seine Unruhe über Bentleys Ausbleiben nachzulassen. Dann schloß er die Augen, um sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren.
    »Wir machen Fortschritte«, unterrichtete ihn die Schwester, als er sich umdrehte. »Es sieht alles sehr gut aus. Ich würde sagen, ihr Muttermund ist schon zehn Zentimeter geöffnet, was meinen Sie?«
    Er saß auf dem niedrigen Hocker und führte seine Hände in den weichen, warmen Schoß seiner Frau. Die Fruchtblase war noch intakt, und durch sie hindurch konnte er den Kopf des Babys fühlen. Er war glatt und hart wie ein Baseball. Was er da berührte, war sein Kind. Normalerweise sollte er in irgendeinem Wartezimmer auf und ab gehen. Die Rolläden des einzigen Fensters im Zimmer waren heruntergelassen, und als er seine Hand aus der Wärme ihres Körpers zog, fragte er sich, ob es wohl noch schneite und ob die Stadt und das weite Land dahinter noch immer still unter ihrer weißen Decke lagen.
    »Ja«, bestätigte er, »zehn Zentimeter.«
    »Phoebe«, sagte seine Frau. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Stimme war klar. Sie hatten monatelang über Namen nachgedacht, ohne eine Entscheidung zu treffen. »Für ein Mädchen Phoebe. Und wenn es ein Junge ist, wird er Paul heißen, nach meinem Großonkel. Habe ich dir das überhaupt schon erzählt?« fragte sie ihn. »Ich wollte dir längst sagen, daß ich mich für zwei Namen entschieden habe.«
    »Das sind schöne Namen«, stimmte die Schwester beruhigend zu.
    »Phoebe und Paul«, wiederholte der Arzt, aber er konzentrierte sich nur auf die Wehe, die sich im Fleisch seiner Frau zusammenballte. Er gab der Schwester ein Zeichen, die daraufhin das Lachgas vorbereitete. Während seiner Assistenzzeit |22| hatte man Frauen, die in den Wehen lagen, noch eine Vollnarkose gegeben. Sie waren erst erwacht, wenn die Geburt vorbei war. Aber die Zeiten hatten sich geändert – man schrieb das Jahr 1964 –, und er wußte, daß Bentley Lachgas nur selektiv einsetzte. Um aktiv pressen zu können, sollte Norah besser wach sein. Nur in den Wehenspitzen und beim Austritt des Kindes würde er sie betäuben, um ihr die größten Schmerzen zu nehmen. Seine Frau verkrampfte sich und schrie auf, als das Baby in den Geburtskanal rutschte und dabei die Fruchtblase zum Platzen brachte.
    »Jetzt«, rief der Arzt, und die Schwester drückte ihr die Betäubungsmaske auf Mund und Nase. Als das Gas zu wirken begann, erschlafften ihre Hände, und ihre Fäuste öffneten sich. Still, friedlich und ahnungslos lag sie da, während eine Wehe nach der anderen ihren Körper durchfuhr.
    »Für eine Erstgeburt kommt das Baby sehr schnell«, stellte die Schwester fest.
    »Ja«, stimmte der Arzt zu, »so weit, so gut.«
    Es verging eine halbe Stunde, in der seine Frau immer wieder erwachte, stöhnte und preßte. Wenn der Arzt dachte, ihre Schmerzen wären zu groß – oder wenn sie schrie, es sei nicht mehr auszuhalten –, nickte er der Schwester zu, die sie daraufhin mit Lachgas betäubte. Bis auf den ruhigen Austausch von Anweisungen wurde nicht gesprochen. Draußen schneite es noch immer. Der Schnee trieb an den Häusern vorbei und legte sich auf die Straßen.
    Der Arzt saß auf einem Stuhl aus Edelstahl und sammelte seine Gedanken. Während seiner Ausbildung hatte er fünf Kinder lebend und gesund auf die Welt gebracht, und diese Geburten rief er sich jetzt ins Gedächtnis, als er in seiner Erinnerung nach den Details für die richtigen Handgriffe suchte. Während er sich konzentrierte, wurde seine Frau, deren Füße in den Bügeln steckten und deren Bauch so hoch aufragte, daß er ihren Kopf nicht sehen konnte, langsam zu einer jener anderen fünf Frauen. Ihre runden Knie, ihre |23| glatten, schmalen Waden und Gelenke lagen vor ihm und
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