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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
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entbinden. Sie kamen leicht und unbeschädigt heraus, waren dick und dunkel und hatten jeweils die Größe eines kleinen Tellers. Zweieiige Zwillinge, männlich und weiblich, der eine war sichtlich vollkommen, die andere von einem zusätzlichen Chromosom gezeichnet, das in jeder Zelle ihres Körpers steckte. Wie gering die Wahrscheinlichkeit dafür war! Sein Sohn lag in der Babyschale. Von Zeit zu Zeit ruderten seine Arme, mit schnellen, fließenden Schwimmbewegungen, als befände er sich noch im Mutterleib. Der Arzt injizierte seiner Frau ein Beruhigungsmittel |28| und beugte sich herunter, um den Dammschnitt zu nähen. Es dämmerte schon, und die Fenster wurden von schwachem Licht erhellt. Während er die Bewegungen seiner Hände verfolgte, fiel ihm auf, wie gut die winzigen Stiche saßen und daß sie genauso ordentlich und gleichmäßig waren wie die seiner Frau. Es kam ihm wieder in den Sinn, wie sie wegen eines Fehlers, den er nicht einmal erkennen konnte, eine ganze Stoffbahn aus ihrem Quilt gerissen hatte.
    Als er fertig war, fand er die Schwester, die das kleine Mädchen in den Armen wiegte, in einem Schaukelstuhl im Wartezimmer sitzend. Wortlos begegnete sie seinem Blick, und er erinnerte sich an die Nacht, in der sie ihn im Schlaf betrachtet hatte.
    »Es gibt da einen Ort«, erklärte er sachlich und notierte Namen und Adresse auf die Rückseite eines Briefumschlages. »Ich bitte Sie, das Baby dorthin zu bringen. Natürlich erst morgen früh. Ich werde die Geburtsurkunde ausstellen und dort Bescheid geben, daß Sie kommen.«
    »Aber Ihre Frau«, wandte die Schwester ein, und von seiner fernen Warte aus konnte er Überraschung und Mißbilligung in ihrer Stimme hören.
    Er dachte an seine dünne, blasse Schwester, an ihr Ringen nach Atem und an seine Mutter, wie sie sich zum Fenster drehte, um ihre Tränen zu verbergen.
    »Können Sie das nicht verstehen?« fragte er sanft. »Dieses arme Kind hat ziemlich sicher einen Herzfehler, sehr wahrscheinlich sogar einen tödlichen. Ich erspare uns allen nur schreckliches Leid.«
    Man hörte ihm an, daß er von seinen Worten überzeugt war. Die Schwester saß schweigend da und starrte ihn unverwandt an. Obwohl sie überrascht wirkte, war ihre Miene undurchdringlich, während er auf ihre Zustimmung wartete. In seiner momentanen geistigen Verfassung kam es ihm nicht in den Sinn, daß sie sein Anliegen auch ablehnen könnte. Erst als die Nacht vorangeschritten war und in den vielen Nächten, |29| die ihr folgten, war ihm bewußt, wie sehr er sein ganzes Vorhaben gefährdet hatte. Statt dessen dauerte ihm ihre Reaktion jetzt zu lange, und er fühlte sich plötzlich sehr müde. Die ihm sonst so vertraute Klinik kam ihm merkwürdig vor, als ob er sich in einem Traum befände. Die Schwester sah ihn aus unergründlichen blauen Augen an, und er erwiderte ihren Blick unerschrocken. Schließlich machte sie eine schwache Kopfbewegung, die man kaum als Nicken erkennen konnte.
    »Der Schnee«, murmelte sie und senkte ihren Blick.
    Aber im Verlauf des Morgens begann der Sturm sich zu legen, und in der Ferne hörte man die knirschenden Geräusche von Räumfahrzeugen, die die reglose Luft durchpflügten. Aus einem der oberen Fenster sah er der Schwester dabei zu, wie sie Schnee von ihrem blauen Auto klopfte und in die weiße Welt hinausfuhr. Das Neugeborene war verdeckt, es lag schlafend in einer mit Tüchern ausgelegten Kiste, die auf dem Rücksitz stand. Der Arzt sah, wie sie nach links in die Straße abbog und verschwand. Dann ging er zurück zu seiner Familie.
    Seine Frau schlief noch. Ihr Goldhaar floß über das Kissen. Hin und wieder nickte er ein. Wenn er aufwachte, starrte er auf den leeren Parkplatz, sah Rauch aus den Schornsteinen gegenüber aufsteigen und bereitete die Worte vor, die er seiner Frau sagen wollte, nämlich daß niemanden eine Schuld treffe, daß ihre Tochter in guten Händen, unter ihresgleichen sein würde und daß man sich dort ständig um sie kümmern könnte. So sei es für sie alle am besten. Am späten Vormittag, als es endgültig aufgehört hatte zu schneien, schrie sein Sohn vor Hunger auf, und seine Frau erwachte.
    »Wo ist das Baby?« fragte sie, stützte sich auf ihre Ellenbogen und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Er nahm ihren Sohn, der sich leicht und warm anfühlte, setzte sich neben sie und legte ihr das Baby in die Arme.
    |30| »Hallo, meine Süße«, begrüßte er sie. »Sieh dir unseren wunderschönen Sohn an. Du bist sehr tapfer
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